„22:04- Alles wird sein wie hier- nur ein klein wenig anders“
Zu Tode massierte Babyoktopusse, propriozeptives Flimmern (Was?)der erzählten Wirklichkeit und apokalyptische Wirbelstürme- auf den ersten Blick kann man Ben Lerners neuem Roman „22:04“ wirklich kein kühles Understatement attestieren. Aber wie dessen erfolgreicher Erstling,Abschied von Atocha, ist auch dieser ist in erster Linie ein Künstlerroman und er zeigt die Welt mehr als Abfolgen von konjunktivischen „Es ist als ob“-Optionen, denn als wirklichen Kausalzusammenhang.
Ironischerweise ist es das Geld- “ einen ansehnlichen sechsstelligen Vorschuss“, den Ben, der Held der Geschichte für einen Romanentwurf erhält- das die Rahmenhandlung zusammenhält, ja erst ermöglicht. Auf absehbare Zeit freigestellt von den Nöten des Alltags, finanziert Ben die künstliche Insemination seiner besten Freundin Alex, veröffentlicht im Selbstverlag ein Dinosaurierbuch mit einem achtjährigen Nachhilfeschüler und trotzt in seinem Brooklyner Appartement Wirbelstürmen die halb New York unter Wasser zu setzen drohen. Dabei fungiert der ungeschriebene Roman als strukturierende Blaupause für die Handlungsmuster der Protagonisten- in der Antizipation und Imagination von Ereignissen, manchmal auch in ihrem Ausbleiben liegt in 22:04 deren eigentlicher Wert. Und so ist es nur konsequent, dass nicht die Handlung den Roman auszeichnet, sondern die beständige und sehr unterhaltsame Introspektion seines Protagonisten.
Der Leser lernt durch die ängstlichen und neurotischen Augen von Ben, eine Lebensform kennen, die man, mit einem poetologischen Augenzwinkern, durchaus als post-postmodern bezeichnen könnte. Der vereinzelte Bewohner einer hyperbeschleunigten Multioptionsgesellschaft besinnt sich mit anderen Gleichgesinnten auf Mittel und Wege, jenseits von überkommenen Traditionen des Miteinanders ein, nun ja, zufriedenes Dasein zu finden. Dabei zeigen sich alle Beteiligten äußert pragmatisch. Eingekauft wird in einem Vereinssupermarkt in dem jedes Mitglied gemeinnützige Arbeit leistet. Dabei ergeben sich für Ben, beim Verpacken von getrockneten Bio-Mangos, Gespräche von merkwürdiger Intimität mit ansonsten wildfremden Städtern. Liebesbeziehungen im klassischen Sinn, rücken durch ihre völlige Inkompatibilität zum Individualisierungsdogma in den Geltungsbereich von Feen und Einhörnern. An ihre Stelle tritt die Erkenntnis, dass eine stabile Freundschaft mit gemeinsamen Hobbys (durch Brooklyn spazieren), als Grundlage ausreichen muss um ein gemeinsames Kind in die Welt zu setzten. Durch Insemination natürlich, denn: „mit dir zu vögeln fände ich bizarr“.
Das alles ist in seiner gekonnten Inszeniertheit literarisch so gut umgesetzt, dass man es Lerner verzeiht, wenn er in 22:04 zuweilen allzu deutlich mit der Fiktionsbruchfahne wedelt und beispielsweise konstatiert er sei zu seinem „eigenen unzuverlässigen Erzähler“ geworden. Denn im Gegensatz zu manchen Zeitgenossen verliert er sich dabei nicht in zeitgeistigem Manierismus. Es geht bei aller Künstlichkeit stets um den Versuch Menschen darzustellen die etwas erkannt haben, oder dabei sind es zu erkennen. Das Wirklichkeit in den 10er Jahren des 21. Jahrhunderts ästhetisch gestaltet,also vorgegeben, aber auch ästhetisch gestaltbar ist. Das es also darum gehen muss ein versierter Gestalter seines eigenen Daseins zu werden.
Dann nämlich wird in Zukunft alles so „sein wie hier- nur ein klein wenig anders.“
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