800px-European_Parliament,_Plenar_hallvon Matthias Böttger

Einen Artikel mit Konsequenzen eines Ereignisses und daraus abgeleiteten Schlussfolgerungen zu beginnen, gilt gemeinhin als schlechter Stil. Zunächst müssten doch Voraussetzungen geklärt und Hintergründe hinreichend beleuchtet sowie notwendige Vorkenntnisse aufgefrischt werden. An dieser Stelle erscheint mir das nicht nötig. Denn obgleich der EU kritisch, skeptisch oder gar feindlich gegenüberstehende Parteien die vorhergesagten Zugewinne einfahren konnten, war doch immer klar, wie die generellen Mehrheitsverhältnisse im Europäischen Parlament aussehen würden. Was also hat diese Wahl tatsächlich geändert? – letztlich nichts.

Resultate

Nichts, außer der Steigerung des Renommees einiger, vorwiegend äußerst kleiner Parteien in Deutschland, die nun erstmals in einem überregionalen Parlament Sitze erringen konnten. Die Abschaffung der Sperrklausel von zunächst fünf, dann drei Prozent durch die Hand des Bundesverfassungsgerichts hat es insgesamt 14 der 25 wahlwerbenden Parteien ermöglicht, zumindest einen Abgeordneten nach Straßburg/Brüssel zu entsenden. Mit unter drei Prozent hat es beispielsweise die eurokritische FREIE WÄHLER-Partei geschafft, deren Abgeordnete sich nun ausgerechnet der dezidiert proeuropäisch auftretenden EDP in der liberalen Fraktion anschließen will. Eine Vertreterin der PIRATEN wird sich demnächst in der Grünen Gruppe wiederfinden; die anderen Abgeordneten von Die Tierschutzpartei, der in der Wahlberichterstattung oftmals unter den Tisch gekehrten extrem rechten NPD, der Partei FAMILIE, der ÖDP und von Die PARTEI werden wohl eher keine Fraktion finden. Insgesamt werden im neuen Europäischen Parlament 190 Parteien aus den 28 Staaten der Union platznehmen.

Darunter sind auch Parteien, die in den deutschen Medien vielfach unter dem Stichwort des Rechtspopulismus zusammengefasst wurden. Die stärkste dieser Parteien ist die Unabhängigkeitspartei des Vereinigten Königreiches (UKIP), die den sofortigen Austritt aus den supranationalen Strukturen der EU anstrebt. Mit dieser Forderung konnte sie in England flächendeckend stärkste Kraft werden – nur im Norden des Landes und in London landete sie auf dem zweiten Platz. Selbst im EU-freundlichen Schottland erreichte sie mit über 10 Prozent einen Achtungserfolg. Doch eine Gefahr für die Demokratie geht von dieser Bewegung eher nicht aus. Die rechtsradikalen Tendenzen in der an sich radikalliberalen Partei sind jedenfalls nichts gegen den sich selbst als radicalement antilibéral bezeichnenden Front national, der durch das öffentliche Ablegen des Antisemitismus und damit in den Augen vieler Franzosen des Rechtsextremismus die Debatte um Europa in Frankreich maßgeblich bestimmt und in der Mitte der Gesellschaft Fuß gefasst hat. Dass dort mit dem Front de gauche auch eine linksradikale bis linksextreme Partei auf fast zehn Prozent kommt, muss dabei als weiteres Anti-EU-Signal interpretiert werden. Die radikale Linke hat mit der ΣΥ.ΡΙ.ΖΑ. (Syriza) auch im von diversen Krisen betroffenen Griechenland Zulauf, was manchem angesichts des Unmuts über die Troika-Reformen verständlich erscheinen mag.

Populismus – ein Abgrenzungsversuch

Woraus die verschiedenen Bewegungen aber überhaupt entstehen konnten, ist die mangelnde Flexibilität der etablierten Parteien; auch deren mangelhafte Reaktion auf auftretende Problemstellungen und Neubewertungen bestehender durch die Bevölkerung. Dabei aber stets von Rechtspopulismus (selbstverständlich nicht in Bezug auf den FG oder die Syriza) zu sprechen und auch flämische Separatisten, die bekanntlich der Grünen Gruppe im EP zugeordnet sind, und Eurokritiker wie die AfD einzubeziehen, wird der Sache meist nicht gerecht. Dass deren Positionen oft rechts angesiedelt sind, sprich sie den Nationalstaat verteidigen und Handlungsfreiheit für die Wirtschaft einfordern, teils auch elitäre Positionen vertreten, ist zunächst nicht verwerflich. Zumindest solange wir von Parteien der Mitte und moderaten, nicht aber von radikalen und extremen, das heißt verfassungsfeindlichen, Parteien sprechen. Ein höherer Grad an Differenzierung wäre hier sicherlich wünschenswert.

Der zweite Wortbestandteil – „populistisch“ – wird dabei schon kontroverser aufgefasst. Gern werfen Vertreter so betitelter Vereinigungen den etablierten Parteien, gerade den staatstragenden Volksparteien, wie etwa der CDU, vor, es seien doch eigentlich diese selbst, die es mit der Komplexität der Materie nicht so genau nähmen, die sich beim Volke durch falsche Versprechungen anbiederten. Die Berufung auf den gesunden Menschenverstand, den common sense, den bon sens ist tatsächlich vielen dieser Gruppierungen zu eigen; er wird aber auch, sicherlich unterschwelliger, von Parteien der Mitte bemüht, oft um sich von den ‚Rechtspopulisten‘ abzugrenzen. Daher sehe ich, gerade auch im Hinblick auf die Europäische Union, die Institutionenfeindlichkeit als wichtigste Komponente des Populismus. Die Abschaffung von Institutionen oder die Untergrabung der Legitimität ihrer Entscheidungen, etwa durch Volksentscheide, ist allen originär populistischen Vereinen gemein, denn sie ermöglicht es erst, ihre stärkste Waffe, die Demagogie, die Volks(ver)führung, effektiv einzusetzen. Demnach haben viele Parteien gewisse populistische Anleihen, doch alleine aus dem Grunde der eigenen Machtsicherung können etablierte Parteien nicht in diesem Sinne populistisch agieren, ohne sich selbst, mindestens perspektivisch, zu schaden. Die separatistischen Bewegungen in Belgien oder Schottland können auf diese Weise noch schlechter erfasst werden, denn sie lehnen Teile der bestehenden Institutionen, etwa nationale Parlamente ab, wollen aber diejenigen in ihren jeweiligen Territorien stärken oder neu einrichten.

Ein Europäisches Wahlrecht

Um das Europäische Parlament aufzuwerten, am besten in erster Linie gegenüber der Kommission, sollte man auf jeden Fall allen Mitgliedern eine gleichmäßige Legitimation verschaffen. Das geht nur über ein Europäisches Wahlrecht, bei dem die Stimme jedes Bürgers den gleichen Stellenwert hat. Wenn kleinere Länder einwenden, ihr Parteienspektrum komme dadurch nicht ausreichend zur Geltung, so kann zum einen auf den Europäischen Rat, dem die Staats- und Regierungschefs gleichberechtigt angehören, verwiesen werden, der zu einer Art Bundesrat weiterentwickelt werden sollte. Zum anderen aber kann es natürlich über Formen der personenbezogenen Verhältniswahl parteiinterne Aufwertungen der kleinen Staaten geben, ohne dass das Parlament in seiner Gesamtheit davon betroffen sein muss. Eine europäische Sperrklausel angewandt auf die europäischen Parteien wäre ebenso denkbar, zumal sie größere Auswirkungen haben kann als nationale Varianten. Schon ein Prozent würde genügen, um einige Kleinstparteien aus dem Parlament herauszuhalten. Auch Parteien, die keiner europäischen Partei angehören, wie etwa die AfD könnten aber bei entsprechender Größe Sitze erhalten.

Wie sich die Europäische Union, was ihre demokratische Struktur angeht, langfristig weiterentwickelt, bleibt also abzuwarten. Vielleicht ist auf kurz oder lang, wie bei allen größeren Reformprojekten der letzten Jahre, etwa den Eurorettungsschirmen, nur eine Lösung durch die Staats- und Regierungschefs einiger Mitgliedstaaten möglich. Vielleicht wird es einen neugegründeten Europäischen Staat geben, und die EU wird rückabgewickelt. Viel wahrscheinlicher ist aber, dass weder die Entwicklung um die Parlamentsrechte, noch das Erstarken rechtspopulistischer, antiinstitutioneller Parteien, die Europäische Union wesentlich stören können. Die europäische Einigung muss und wird weiter gehen – hoffentlich in Vielfalt geeint.

Bild: CherryX per Wikimedia Commons

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