„Ich, ich bin in Yiwu“, erklärte er „wollen wir uns treffen?“ „Jaaaaa“, rief Gertrude, „was für eine wundervolle Idee. Komm doch in einer Stunde in den Xiuhu Park.“ Tutanchamun konnte seine Freude kaum halten „Toll! Bis dann“, rief er und lief los…
Im Wasser des Sees spiegelten sich links die Hochhäuser, rechts ein kleiner, säulenartiger Turm, der auf einem penisularen, Verzeihung, peninsularen Auswuchses des Ufers stand. Das kontrastreiche Bild erinnerte an die mitteleuropäische Industrialisierungsromantik.
Auch ansonsten waren Kontraste äußerst präsent. Zwischen Bäumen verschiedenster Höhen und Farben waren leuchtende Weihnachtsfiguren aufgestellt worden, und das nicht gerade frugal. Direkt neben der Bank, auf der Tutanchamun sich niedergelassen hatte, stand ein gigantischer weißer Yeeti, dessen Sinn sich ihm nicht gänzlich erschließen mochte – falls das gruselige Etwas eine Verbindung zum Fest der Liebe hatte, dann nur in der Kategorie „Nekrophilie„. So richtiges Weihnachtsfeeling kam da nicht auf…
Apropos Fest der Liebe – links von ihm tauchten zwei Gestalten auf dem Weg auf. Sein Herz begann, schneller zu schlagen. Waren das Gertrude und Agathe? Auf die Distanz ließ es sich noch nicht mit Sicherheit sagen, doch etwas ließ in stutzen, ohne dass er wusste, was es war… aber doch, ganz sicher, die kleinere der beiden Gestalten war Gertrude, das erkannte er jetzt. Ihr leicht schwankender Gang, den er immer liebevoll mit einem oszillierenden Newton’schen Pendel verglichen hatte, die baumelnden Arme daneben, die Art, wie sie ihren Kopf zur Seite drehte, um Agathe etwas zu erzählen – eindeutig sie. Noch schienen die beiden ihn nicht entdeckt zu haben – vielleicht besser so, denn mittlerweile schlug sein Herz einem Erdbeben der Magnitude 8 gleich, und seine Beine zitterten, als würden sie die schlagartigen Wellen wie die Mohorovičić-Diskontinuität reflektieren und selbst zum tektonischen Schwingen angeregt werden.
Mit zittrigen Fingern fischte er das Blatt Papier aus der Tasche und faltete es auf. Das Bleistiftgekrakel darauf war alles, was er auf der Fahrt zum Park hinbekommen hatte, nur wenige Zeilen:
Ich kannte dich mein Leben lang / doch nun habe ich lebenslang / und sag dir hier im Liebes-Slang / wie sehr ich dich noch immer mag. / Oh, come on love, stay with me…
Zugegebenermaßen, weder Metrum noch Reim waren von überragender Qualität, obwohl er extra darauf geachtet hatte, nicht zu lange Wörter zu verwenden, da er um Gertrudes Hippopotomonstrosesquippedaliophobie wusste. Zudem stand das Ganze nicht auf normalem Papier, sondern auf der Verpackung einer Wasabipastenkugel, weil das das Einzige gewesen war, was in greifbarer Nähe gewesen war. Und auch der Inhalt des Gedichts ließ zu wünschen übrig… er kannte Gertrude zwar schon lange, eigentlich aber erst näher seit der postabituriellen Phase, in der sie beide, überfordert von der plötzlichen Freiheit und Leere zugleich, als einzige ihrer Klasse nicht auf Kreuzzug und –fahrt verschwanden, sondern in ihrem kleinen Kaff verweilt hatten. Außerdem war die letzte Zeile von Coldplay geklaut, was nicht weiter für die Qualität des Fünfzeilers sprach. Und auch der Rest des Inhalts… war er wirklich hier, um wie ein weltlicher Fürst beim Reichsdeputationshauptschluss 1803 eine Abfindung zu kassieren? Natürlich litt er unter der Trennung vom Vorjahres-Heilig-Abend, als Gertrude einfach abgehauen war, natürlich dachte er immer noch oft an sie, und er mochte sie auch immer noch, vielleicht auch immer noch etwas zu sehr – aber gerade in den letzten Tagen seiner Reise waren die Gedanken an Gertrude weniger geworden, er war freier geworden – vielleicht auch endlich frei von seiner fast schon Besessenheit der Ex-Partnerin.
Und auch diese schien… freier, glücklicher, erkannte er jetzt, wo ihn lediglich noch einige Meter von den beiden trennten. Die Art, wie die beiden gestikulierten, wie sie sich ansahen, wie Gertrude Agathe in seine Richtung zog – er musste lächeln, und daraufhin unweigerlich lachen, über sich selbst und über sein Sich-Reinsteigern in den Liebeskummer. Aus dem Augenwinkel sah er, wie der Riesenyeeti neben ihm ebenfalls mit dem Kopf wackelte, als ob er lachen würde. Wurde er verrückt?
Nein, einfach nur endlich wieder er selbst, konstatierte er, nicht mehr eine Kopie seiner selbst, gefangen in Liebeskummer und Selbstmitleid. Gertrude und Agathe waren nun fast bei ihm angekommen. Er steckte den Zettel wieder in seine Tasche – eine Dichterwerdung war schließlich sowas von überholt (und eigentlich hatte er auch keine Lust, am Ende der Geschichte auf dem Grunde des Sees zu landen).
„Hallo, Tutanchamun.“
–
Nachwort:Diese Geschichte ein Ende finden zu lassen, war gar nicht so einfach, aus mehreren Gründen. Zum einen hatten wir keinerlei brauchbare Vorlage, an der man sich orientieren konnte – die einzigen Geschichtsenden, die wir ausführlich analysiert haben, sind die von Faust, dem Steppenwolf und dem Goldnen Topf (Und das vom Blonden Eckbert, aber dass Gertrude und Tutanchamun eigentlich Geschwister sind, will keiner, weder wir noch ihr). Zum anderen, weil Tutanchamuns Handlungsmotiv die ganze Zeit zugegebenermaßen sehr platt war – zu Weihnachten eine Liebesgeschichte, dazu noch mit Happy End? Nein danke. In dieser Hinsicht ähneln wir Tutis Weihnachtsverdrossenheit vielleicht ein wenig. Und dann wären da natürlich noch die Reizwörter – man kann die Kombination aus der Mohorovicic-Diskontinuität, einer Wasabipastenkugel und dem Reichsdeputationshauptschluss als vieles bezeichnen, aber auf keinen Fall als naheliegend. Also entschuldigt bitte, wenn euch die Geschichte an manchen Stellen ein wenig holprig vorkam, oder ihr Tutanchamun spätestens nach der Offenbarung seiner Vorliebe für Geo-Metaphern nicht mehr leiden konntet – das ist immerhin nicht nur unsere Schuld;)
Wir wünschen allen Leserinnen, Lesern und Lesxs schöne und „enthaltsame“ Feiertage!
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