Patriotismus – ein zeitloses Phänomen? – Anne Sophie Müller
Farbenfrohe Gruppentherapie
Leuchtende Farben wie an einem kitschigen Weihnachtsbaum, eine Menschenmenge, von denen einige Beteiligte augenscheinlich ein starkes Alkoholproblem haben, und die sich zum Teil unter freiem Himmel und zum Teil unter einer leichten Überdachung versammelt haben… Da kann man wahlweise den Glühwein und die örtliche Blaskapelle eines Dorfweihnachtsmarktes oder eine Gruppensitzung, die mit den Worten beginnt „Hallo, mein Name ist [hier bitte beliebigen Namen einfügen] und ich habe ein Problem“, vor Augen haben. Doch während die Anwesenden durchaus schreckliche Musik über sich ergehen lassen müssen und viele diesen Ort tatsächlich nur aufgesucht haben um für ein paar Stunden Gemeinschaft und Akzeptanz zu erfahren, handelt es sich hierbei weder um einen verfrühten Adventsmarkt noch um eine Gruppentherapie, bei der die Anwesenden ihre Gefühle durch abstrakte Kunst zum Ausdruck bringen müssen…
An dieser Stelle frage ich mich erneut was ich eigentlich hier verloren habe. Offenbar mein Gehör, nachdem ich die Vuvuzela neben meinem Ohr kaum noch wahrnehmen kann. Neben mir umarmen sich zwei junge Männer und lachen dabei über einen Witz, den man wohl erst ab 1‰ versteht. Während ich noch gegen meine Höhenangst ankämpfe, beginne ich mich zu fragen, wie ein paar laute Töne und ein paar in einer bestimmten Reihenfolge angeordneten Farben bloß so viele und so unterschiedliche Menschen zusammenbringen können.
In Deutschland allein leben beispielsweise über 80 Millionen Menschen; In einem Land wie Indien sind es dagegen schon knapp 1,3 Milliarden; Tendenz steigend… So viele Menschen, deren einzige Gemeinsamkeit in einer gemeinsamen Sprache und einer ähnlichen geographischen Lage ihres Wohnortes besteht; … ein paar Liedzeilen, ein bedrucktes Stück Stoff, das im Wind weht, und schon fallen sich Personen in die Arme, die Tausende von Kilometern voneinander entfernt wohnen und sich noch nie zuvor begegnet sind… Ist es wirklich so einfach?
Plötzlich erheben sich ein paar Meter weiter die Zuschauer für die französische Nationalhymne:
Anscheinend ja…
„[…] Zu den Waffen, Bürger! Formt Eure Schlachtreihen, Marschieren wir, marschieren wir! Bis unreines Blut unserer Äcker Furchen tränkt! […]“
Mein Blick wandert über die Menschenmenge und verharrt kurz auf einem kleinen Jungen, der auf den Schultern seines Vaters sitzt. Seine Augen leuchten. Es ist eben dieses Leuchten, das mir ein Schauer über den Rücken laufen lässt. Drei Farben erfüllen die Luft: Blau, Weiß, Rot; Alles andere verschwimmt. Auch die menschlichen Gestalten verschwinden in diesem Farbenmeer, als hätte es sie nie gegeben…
Sollte unsere Gesellschaft nicht bereits weiterentwickelt sein? Sollten wir das Phänomen des Patriotismus nicht schon längst überwunden haben?
Obwohl der kleine Junge vermutlich noch nie auch nur einen Gedanken auf den Inhalt des Liedes verschwendet hat, welches er mit Begeisterung singt; Und auch wenn diese drei Farben von jedem französischen Fan im Stadion in irgendeiner Weise getragen werden, ohne dass diese über deren Bedeutung nachgedacht hätten… Es will mir einfach nicht aus dem Kopf gehen, dass es dennoch die gleichen Farben sind, die bereits in Kriege getragen wurden und ganze Völker davon überzeugt haben, dass der Tod ihrer Angehöriger einem höheren Zweck gedient habe. Und dieser höhere Zweck ist nichts Geringeres als das eigene Vaterland, repräsentiert durch nur drei Farben auf einem Stück Stoff.
Patriotismus ist eben diese Liebe oder Treue dem eigenen Heimatland gegenüber. Doch für mich ist ein Land nur ein von Menschen erdachtes und geformtes Konstrukt. Sollte eine Gesellschaft in Zeiten der Globalisierung und nach Jahrhunderten, ja sogar Jahrtausenden von sinnlosen Kriegen, geführt aufgrund des Strebens nach Einfluss, Macht und Gebietserweiterung mit verfeindeten Gruppen, die sich oftmals objektiv betrachtet kaum voneinander unterschieden, nicht endlich von dem Gedanken distanzieren, dass ein Bürger seinem Geburts- und Wohnort Treue schuldet?
Und an welcher Stelle wird die Grenze gezogen? Hört dieses Treuebündnis an der Schwelle der Geburtsstation des Krankenhauses auf oder umspannt es gar die ganze Welt? Gewiss; niemand würde den hell erleuchteten Kreissaal, den er vor allem anderen im Leben betreten hat, als seine Heimat bezeichnen; denn Heimat ist mehr als nur der Ort der Geburt. Und dennoch ist es mehr oder weniger zufällig, wo und in welcher Familie man aufwächst. Die Person selbst hat keinerlei Einfluss auf die Taten seiner Vorfahren. Wären meine Vorfahren vor 400 Jahren in die Region Russlands gezogen, so würde ich heute andere Farben schwenken, als wenn sie in die Region des heutigen Italiens gezogen wären.
In früheren Zeiten war diese Treue der Bevölkerung ihrer Heimat gegenüber essentiell, sollten die Führer eines Landes in den Krieg ziehen wollen oder müssen. Damit ein Volk die Schrecken eines Krieges erträgt, keine Revolution anzettelt und sich freiwillig auf den Weg an die Front macht, benötigt es mehr als nur ein verhasstes und gefürchtetes Feindbild. Die Menschen müssen glauben, dass sie mehr als nur die Grenzen eines beliebigen Gebietes schützen und für mehr kämpfen als nur für die größenwahnsinnigen Ambitionen ihrer Generäle. Stattdessen schützen sie ihre gemeinsamen Werte. Diese sind oftmals mehr plakativ als tiefgründig; Werte, auf die sich Tausende von Menschen aus den unterschiedlichsten sozialen Schichten einigen können: Freiheit und Ehre sind da wohl die beliebtesten Kandidaten. Während in Friedenszeiten die Abgeordneten in Parlamenten sich nicht auf die simpelsten politischen Leitlinien einigen können und sich aufgrund von einzelnen Formulierungen verbale Schlachten liefern, benötigt es im Krieg einfachste Mantras, die die Menschen zusammenschweißen und helfen, über Unterschiede hinweg zu blicken. Ein bildgewordenes Mantra ist da auch die Flagge und ihre Farben.
Doch während wir die alten Gewehre, rostigen Schwerter und verbeulten Rüstungen in die Museen verbannt haben, ist uns die Flagge nach wie vor ein willkommener Gast. In einem Land wie Deutschland, das ein eher schwieriges Verhältnis zu seinem Nationalstolz besitzt, taucht der schwarz-rot-goldene Stofffetzen nur zu den Sportereignissen auf. Doch ein kurzer Blick in die USA, in der scheinbar jeder freie Quadratmeter mit der hauseigenen Flagge tapeziert wird, offenbart, dass andere Länder dies anders handhaben. Fährt man in Boston beispielsweise mit der Rolltreppe aus der U-Bahnstation hinaus, so kann man sich während der Fahrt damit langweilen, die amerikanische Flagge anzustarren, die für alle „Passagiere“ gut sichtbar angebracht ist. Dieser Umgang mit dem eigenen Nationalstolz und der Flagge schließt auch Militärparaden nicht aus, bei denen Flaggen allgegenwärtig sind. Obwohl die meisten westlichen Länder ihre Streitkräfte heute nicht länger in offenen Kriegen einsetzen, sondern diese stattdessen in Stellvertreterkriege oder Friedensmissionen schicken, bedeutet dies nicht, dass es bei diesen Einsätzen keine Todesopfer im Namen des Vaterlandes mehr gibt. Und dennoch stehen die Menschen zu Hunderten hinter den Absperrungen und schwenken die gemeinsame Flagge. Als Außenstehender kann ich jedoch nur vermuten, dass es ihr Stolz auf die militärische Stärke ist, sowie der Glaube daran, dass mit dieser Stärke die richtigen Werte durchgesetzt werden, die sie auch bei schlechtem Wetter in den Straßen ausharren und ihren Helden zujubeln lässt.
Fragt man in den USA einen Bürger, weshalb er das Sternenbanner in seinem Vorgarten gehisst hat, verstehen viele zunächst die Frage nicht. Patriotistische Gefühle scheinen Alltag zu sein, und sie offen zu zeigen, ist nichts Ungewöhnliches. Ob in der Schule oder bei einem Baseballspiel, die Flagge und die Nationalhymne sind allgegenwärtig und überall zeigt sich der amerikanische Nationalstolz. Als Begründung geben viele da an, dass sie damit zeigen wollen, dass sie die Werte ihres Vaterlandes hochhalten.
Doch wie bei den Kriegen der Vergangenheit hilft die Flagge und die Hymne den Menschen, über die Gräueltaten des eigenen Landes hinwegzusehen und sich nur auf die einfachen, positiven Werte, die vertreten werden, zu fokussieren. Dabei leugnen die meisten Menschen die Vergehen, die im Namen einer Nation, eines höheren Ziels begangen wurden, oft gar nicht, sie lassen sie jedoch einfach so stehen und lassen sich von ihnen nicht beirren. Für sie ist die Treue zum Vaterland wichtiger.
So rührend es auch sein mag, dass der Staat einigen Menschen einen Sinn im Leben gibt – ist es nicht eher schockierend, dass in unserer heutigen Zeit noch immer eine solche Vaterlandstreue existiert, die es ermöglicht, beim Anblick von bewaffneten Soldaten und schwerem Kriegsgerät so etwas wie Stolz zu empfinden und zu verdrängen, dass mit diesen Waffen Menschenleben ausgelöscht wurden und werden? Wann immer ich zufällig auf einer Militärparade lande und Düsenjäger über meinem Kopf und Panzer neben mir erscheinen, kommt mir als erste Reaktion das Grauen. Ich kann nicht über das Blut hinwegsehen, das an den Läufen der Gewehre klebt und dass es Menschen gibt, die das können, lässt mich erschaudern. Doch auch die Flaggen, die die Länder und ihre Werte repräsentieren sollen, in deren Namen auch getötet wurde und wird, tauchen immer wieder in der Zivilgesellschaft auf. In einer Gesellschaft, die zwar um die Toten weiß, es jedoch vorzieht, bei der Fahne nur an das Positive zu denken und alles Negative zu verdrängen. Denn Patriotismus lebt von dem Wegschieben und Verdrängen, dem Feiern von Siegen und den eigenen Helden und dem Verdrängen der anderen Toten. Doch wie können aufgeklärte Menschen eine vor Blut triefende Fahne aufnehmen und dabei die zähgewordene, klebrige, rot-braune Flüssigkeit vergessen…?
In Zeiten der früheren Kriege mag all dies nützlich gewesen sein, um das Volk für den Krieg zu vereinnahmen. Doch in Zeiten der Globalisierung, in der sich die Länder dem Rest der Welt immer weiter öffnen, sowohl in Bereichen der Wirtschaft und Politik, als auch bei der globalen Kommunikation, ist der Versuch sich auf seine kleine heimelige Welt zu stützen, eher ein Rückschritt. Für ein großes Unternehmen beispielsweise ist ein Land doch nur eine Ansammlung von günstigen oder ungünstigen Standortfaktoren, das einem ansässigen Unternehmen den rechtlichen Rahmen vorgibt. Sobald man die internationale Bühne betritt, verschwimmen die Kultur, der Stolz auf die kleine farbenfrohe Militärparade und die plakativen Sprüche. Was bleibt, sind politische Verwicklungen, der Streit um winzige Unterschiede in den Formulierungen und statistische Messgrößen zu den Entwicklungen eines Landes.
Die letzten Takte von „La Marseillaise“ klingen aus und erneut ertönt in der anderen Stadionhälfte ein lauter Jubel begleitet von einem Fahnenmeer aus Blau, Weiß und Rot. Eine unter dem Lärm kaum verständliche Ansagestimme gibt das Zeichen für den Wechsel des Jubels in diese Hälfte des Stadions. Doch niemand musste die Stimme tatsächlich verstehen können, denn jeder wusste, was sie bedeutete. Eine Welle fegte durch den Fanblock und riss alle mit. Niemand saß mehr auf seinem Platz alle waren aufgestanden, so als hätte die Menge Angst, von der Welle ertränkt zu werden.
Auch ich lasse mich mitnehmen in diese Welt der Farben. Denn wenn eine so große Gruppe von Menschen plötzlich gemeinsam aufsteht und jubelt, animiert sie damit jeden in ihrer Mitte, es ihr gleich zu tun. Es ist jedoch nicht schlicht und einfach nur der Gruppenzwang, der Einzelne mobilisiert, nein, es ist auch der Wunsch, zu einer großen Gruppe dazuzugehören. Wer Teil einer Gruppe ist, fühlt sich selbstsicherer, da er durch die Gruppe in seiner Meinung und seinem Verhalten bestärkt wird. Von meiner Höhenangst ist nun nichts mehr zu merken. Von der Menge wie elektrisiert stehe ich da und könnte mich nicht mehr setzen, auch wenn ich es wollte. Dort unten in meinem Sitz schien ich von Fremden umzingelt, doch jetzt sind wir alle ein Teil von etwas Größerem.
Auf einmal wird mir klar: Menschen sind Herdentiere und wollen zu einer Gruppe gehören, selbst wenn dies bedeutet, dass sie dafür einen Teil der eigenen Überzeugungen aufgeben oder ihre eigene Meinung extremisieren müssen.
Auf einmal verstehe ich die Vorstadt-Amerikaner mit ihrer farbenfrohen Flagge im Vorgarten.
Ich verstehe die jubelnden Menschen auf der Militärparade im Regen.
Und ich verstehe sogar den kleinen Jungen mit den glänzenden Augen.
Gerade in einer Zeit, in der das Individuum im Schatten des Internationalen verschwindet, verlieren viele Menschen ihr Bezugssystem und wünschen sich eine Gruppe der Zugehörigkeit. Eine Gruppe, die sich nach außen hin abgrenzen kann und (sollte es notwendig werden) auch eine andere außenstehende Gruppe als Feindbild etablieren kann. Wenn ich mich selbst als Teil einer Gruppe betrachte, muss ich nicht fürchten, in dem Gestöber der Welt unterzugehen.
Die Menschen verdrängen, um ein Bezugssystem zu haben, und sie schwenken die Fahnen, um sich als Verfechter der eigenen Werte sehen zu können und Teil einer Gruppe solcher Verfechter zu sein, egal wie scheinheilig und oberflächlich dies auch ausfallen mag. Die Treue dem Vaterland gegenüber dient als stellvertretendes Medium, welches für alle positiven Werte steht. Dabei müssen dies bei verschiedenen Personen gar nicht haargenau dieselben Werte sein, es genügen schon ethische Wegweiser, die von jedem anders interpretiert werden können. Wichtig ist nur das Symbol der gemeinsamen Flagge, der gemeinsamen Nationalhymne; das Symbol der Einheit.
Schwarz-Rot-Gold überall. Ein Taifun von Farben. Doch die Menschen verschwinden nicht in dem Farbenmeer, sie werden ein Teil davon. Die ersten Takte der Hymne erklingen. Keine erste oder zweite Strophe, nur die dritte wird gesungen:
„Einigkeit und Recht und Freiheit für das deutsche Vaterland […]“
Mag an diesen Tönen und Worten noch so viel unausgesprochenes Blut vergangener Zeiten kleben, ich kann es nicht hören. Die Freude der Menschen um mich herum und das Gefühl, ein Teil von etwas Größerem sein zu können, verdrängt alles andere aus meinem Kopf.
In diesem Moment interessiert es niemanden, der dort singt, was im Bundestag oder im europäischen Parlament oder gar in der UN-Generalversammlung geschieht. Mögen sie normalerweise sorgen und bangen über die Zukunft ihres Berufs, ihrer Familie etc.. Denn während wir dort singen, ohne überhaupt über den Text nachzudenken, singen wir dasselbe Lied wie bereits Millionen andere vor uns. Doch es geht auch nicht darum zu denken, fühlen ist hierbei entscheidend. Es entsteht eine gefühlte Einheit, die nur für wenige Augenblicke bestehen bleibt. Und obwohl man durch den Text geeint wird, gibt es wohl keine zwei Personen in der Menge, die die gleiche Vorstellung von „Recht und Freiheit“ haben. Wer eine Hymne singt oder eine Flagge schwenkt, ist Teil von etwas, und die komplexen politischen Machenschaften treten in den Hintergrund.
Solange Menschen nach der Zugehörigkeit zu einer Gruppe streben, wird es Patriotismus geben, denn es ermöglicht uns, Menschen, die kaum etwas gemein haben, zu Millionen oder sogar Milliarden zu vereinen und ihnen damit ein Gefühl von gemeinsamer Stärke zu vermitteln. Wir verdrängen das, was nicht in das gemeinsame Bild passt, und definieren unsere Werte als „das Gute“ und alles, was dem gegenübergestellt wird, als „das Böse“. Obwohl wir kaum noch direkte Kriege haben und wir den Patriotismus nicht mehr benötigen, um die Bevölkerung in solchen Zeiten ruhig zu stellen, erfüllt die Vaterlandsliebe damit noch immer einen Zweck in unserer Gesellschaft. Patriotismus wird demnach immer dann auftauchen, wenn die Menschen ein Gefühl der Zugehörigkeit benötigen und ist somit ein zeitloses Phänomen.
Lasst uns also eintauchen in diesen Pool des Verdrängens, um unsere kleinlichen Sorgen und Ängste zu vergessen und in unserer Euphorie das Blut vergangener Zeiten trocknen lassen. Auf dass wir in dieser kurzen Zeit ein Gefühl der Zugehörigkeit empfinden, welches uns auch in schweren Zeiten erhalten bleibt.
„[…] Blühe deutsches Vaterland.“
Das Dunkle unterm Bett – die Irrationalität unserer Ängste – Kora Holschbach
Die besprochene Klausur wird herausgegeben, und schon wieder diese Angst. Die Angst zu versagen, den Lehrer zu enttäuschen, den eigenen Ansprüchen nicht gerecht zu werden. Wir überspielen sie, zeigen sie nicht, lachen, und sagen, dass schulische Leistungen fürs Leben eigentlich nicht weiter wichtig sind. Im Leben kommt es schließlich auf Wichtigeres an, nicht auf Noten und auch nicht auf ein Abi. Alles nur ein Konstrukt, jede Klausur eine Momentaufnahme, die nie die Leistung eines Schülers vollständig erfassen könnte; und doch wagt man sich, den Wert des Intellekts über ihre Summe absolut zu bestimmen.
Dann die Erleichterung, sichtbar auf den Gesichtern, die Note stimmt, der Lehrer und die Eltern sind nicht enttäuscht. Oder die aufgesetzte Gleichgültigkeit, alles nicht so wichtig, was maßen sich andere an, sich in die schulischen Leistungen einzumischen, wenn man selbst doch gar nicht den Anspruch auf ein gutes Abi hat. Und trotzdem fühlt man sich schlecht, wertlos. Das Gefühl nach einer schlechten Note bleibt, lässt einen an sich selbst zweifeln und die nächste Klausur fürchten, während die Euphorie bei einer guten Note nur kurz anhält und die Klausur schnell in den Hintergrund rückt, hinter all die anderen Geschehnisse, die doch so viel spannender sind.
Auffällig ist dabei, wie schnell das Ergebnis doch vergessen ist, obwohl man sich vor der Rückgabe tage- und nächtelang quälte. Förmlich übertrumpfen wollen sich die Schüler in ihrer Angst, jeder will zeigen, dass seine Angst gerechtfertigt ist, er mehr zu verlieren hat als alle anderen. Die eigene Unsicherheit wird im Vergleich zum sozialen Statussymbol, es sind diejenigen, die sich am wenigsten Sorgen machen müssten, bei denen eine einzige schlechte Note inmitten einem Meer an hervorragenden Leistungen untergehen würde, die sich mit der größten Angst quälen. Sie können nicht schlafen, nur wenig genießen und lenken alle Gespräche letztendlich immer wieder auf das eine Thema zurück, bis dann endlich die gefürchtete Klausur herausgegeben wurde und der Spuk vorbei ist. Wenigstens steht das Ergebnis jetzt fest, und egal wie es ausfällt, alles ist besser als diese schleichende Angst vor dem Versagen, diese Unsicherheit seiner eigenen Leistung.
Angst, dieses undeutliche Gefühl des Bedrohtseins[1], dieser beklemmende und bedrückende Gefühlszustand, ist irrational. 40 Meter über dem Abgrund, gesichert nur über ein Seil und einen selbstgeknüften Knoten, der einen im Notfall abbremsen soll, verspürt man einen Kick. Adrenalin strömt und man genießt jeden Moment des Abstiegs, der Tod nur eine morsche Stelle im Seil entfernt.
Und nachts, im eigenen Bett, packt einen die Panik, wenn sich die eilig hingeworfenen Wäsche in ein Gruselmonster verwandelt, ein kühler Luftzug auf der Haut eine Spinne vermuten lässt oder ein unbekanntes Geräusch auf Einbrecher hindeutet. Die Gefahr ist hier eindeutig und man liegt stocksteif auf der Matratze. Jeden Moment könnte eine Pistole auf einen gerichtet werden und eine hektische Bewegung den Schuss provozieren, während man im Halbdunkeln die drohende Gestalt vor dem Vorhang nur schemenhaft erahnen kann. Da scheint das Abseilen am Felsen doch sicherer, es gibt keinen Grund zur Angst, denn wenigstens ist man in 40 Meter Höhe außerhalb der Reichweite kleinerer Pistolen.
Als Deutscher muss man jedoch nicht nur vor den Einbrechern im eigenen Haus Angst haben. Seit 2014 starben schließlich schon mehr als 25 Menschen an Terroranschlägen[2]! Ein guter Grund, große Menschenmengen, Festivals und Bahnhöfe zu meiden und am besten nur noch mit dem Auto umher zu fahren, wo man besser geschützt ist und die Todesgefahr deutlich geringer ist. Oder man sollte sich eventuell doch einen Umzug nach Vietnam überlegen, wo es 2016 keinen einzigen Toten durch Terror gab, während in Deutschland ein LKW über den Berliner Weihnachtsmarkt raste.
Angst führt dazu, uns diese Gefahren bildlich vorzustellen, sie verstärkt unsere Emotionen und lässt uns das Potentielle deutlich fühlen. Hätten wir keine Angst, so wären wir nicht in der Lage, einen Einbrecher in den im Winde wehenden Vorhängen zu erkennen und die Spinne, sobald wir einmal an sie gedacht haben, förmlich über die Haut kriechen zu spüren. Wäre unser Leben nicht eintönig, wenn wir nicht die nächtliche Überraschung hätten, die unseren Blutdruck in die Höhe treibt und uns auf einmal hellwach und lebendig fühlen lässt, obwohl es schon drei Uhr ist? Nichts beflügelt den Menschen mehr als Angst, zu diesem Schluss kommen immer mehr Forscher[3]. Wer keine Angst hat, der wird auch nie diese einzigartige, von der Angst beflügelte Vorstellungskraft entwickeln, die Musiker und Künstler zu Meisterwerken bewegt. Die größten Genies unserer Zeit sollen in ihrem Herzen Angsthasen gewesen sein, die stetig von der Angst vor dem Versagen beflügelt, großartige Leistungen hervorbrachten. Steve Jobs und Bill Gates waren beide schüchterne, unscheinbare Jungen, die sich kaum trauten, den Mund zu öffnen. Heutzutage sind sie weltberühmt und gelten als wegweisende Gestalten des 21. Jahrhunderts. Angst treibt Menschen vor sich her, erzwingt immer herausragendere Leistungen, doch nur wer die Angst überwinden kann, der kann den damit einhergehenden Erfolg auch ausleben.
Achterbahnen sind teuer, man zahlt für die Garantie der eigenen Sicherheit, Unfälle passieren fast nie. Es ist leicht, hier die Angst zu überwinden und das Hochgefühl beim Herabsausen zu genießen. Um die Angst überwinden zu können, muss man sie jedoch erst einmal haben. Während die Forschung die Angst untersucht hat und ihr auf den Grund gekommen ist, das Zentrum der Angst, die Amygdala, im Gehirn ausgemacht hat und nun schon von Geburt an die Ängstlichkeit und Empfindlichkeit einer Person voraussagen kann, haben sich Unternehmer Angst zum Geschäftsmodell gemacht. Angst bringt Geld, und zwar viel. Freizeitparks und Fallschirmspringer nutzen das Hochgefühl der Angst, um Menschen anzulocken. Es gibt allerdings noch ein anderes Geschäftsmodell der Angst: Versicherungen[4].
Die Angst der Menschen folgt meist keinen logischen Regeln, sie ist irrational. Man fürchtet sich trotz gutem Job und Sparanlagen vor der Altersarmut, trotz Sicherheitsverkehrungen und politischer Stabilität vor Terrorismus und trotz jeglicher Vernunft vor dem Monster im Dunkeln.[5] Menschen fürchten sich am meisten vor dem Diffusen, Unbekannten, Unsicheren, und nicht vor realen Gegenständen oder Gefahren. Die Angst vor dem Fall, einer durchaus akuten Gefahr, kann überwunden und mit einem Hochgefühl belohnt werden, während die potentiell unwahrscheinliche, weit in der Zukunft liegende Bedrohung oder auch nur Veränderung der bekannten Lebensumstände Menschen bis in den Wahnsinn treiben und zwanghafte Angststörungen hervorrufen kann. Wer sucht schon Lösungen für das Schmelzen der Polkappen, welcher Politiker würde eine Naturveränderung als größte Gefahr der Zukunft deklarieren, wenn es so einfach ist, die wahren Probleme aufzuschieben und sich den Imaginären zuzuwenden, die wenigstens Wählerstimmen bringen. So weit entfernt von der eigenen Lebensrealität erscheinen Klimawandel und Umweltverschmutzung, dass das diffus beklemmende Gefühl der Angst vor Einbrechern, dem Fremden und schlechten Noten den Fokus weg von den eigentlichen Problemen ins Irrationale richtet.
Dass der Mensch Wege sucht, die Gründe für die eigene Angst zu eliminieren, ist nur natürlich. Während der Mensch allerdings im vorzeitlichen Geschehen einfach vor dem Sägezahnartiger davonlaufen konnte, muss den Gefahren des Alltags anders entgegengewirkt werden. Hier bieten sich Altersvorsorgen, Lebensversicherungen oder auch Hochzeitsrücktrittversicherungen an. Überlegt man sich die Wahrscheinlichkeit, dass durch ein Feuer oder einen Sturm die Hochzeit platzt, wird einem die Dringlichkeit solcher Ausgaben schnell bewusst. Dass Beziehungsprobleme oder die Absage einer Hochzeit normalerweise keinen Versicherungsfall darstellen, ist angesichts der drohenden, anderen und viel dringlicheren Eventualitäten nur zu verständlich. Auch Lebensversicherungen weisen bedeutende Vorteile gegenüber einem normalen Sparkonto auf, wo der Sparende im schlimmsten Falle auch noch Zinsen auf das Eingezahlte erhalten würde.
In diesen und auch vielen anderen Fällen ist es durchaus sinnvoll, dass der Bürger seiner Angst entgegengewirkt und damit einen zusätzlichen Stressfaktor im Alltag eliminiert. Dass der Versicherungsmarkt in Deutschland allerdings noch nicht ausreichend die Ängste der Bürger beruhigen kann, lässt sich daran erkennen, dass es weder Versicherungen gegen Monster im Dunkeln noch gegen schlechte Zeugnisse gibt. Alternativ böte sich auch eine Versicherung an, die den Bürger gesundheitliche Folgekosten durch den bei einer nicht ausreichenden Zahl an Versicherungen entstehenden, zusätzlichen Stressfaktor bezahlt.
Sind gegen alle Eventualitäten Maßnahmen getroffen, kann sich der Bürger endlich der Entfaltung seines Potentials widmen. Schüler müssen sich endlich nicht mehr gegenseitig ausstechen und beweisen, dass ihre Angst größer und ihre Leistung damit besser ist. Die deutsche Marktwirtschaft wird einen Aufschwung erleben, wenn Manager und Vorstände antriebslos und gegen Führungsfehler versichert die Karriereleiter emporklettern und die deutschen Unternehmen in einer vollkommen risikofreien Manier in die Pleite führen, während international Wettbewerber aufeinander losgehen und versuchen, die Konkurrenz mit gewagten Innovationen auszustechen.
Die Angst vor dem Dunkeln muss als primitives Mitbringsel früherer Zeiten erkannt werden, das überwunden werden muss. Angst ist beklemmend und drückt Menschen herab, sie lässt einen sich nicht wohlfühlen und weckt Fluchtinstinkte[6]. Ein angstfreies Dasein als Menschenrecht zu erklären wäre eines der Ziele der entwickelten und modernen Gesellschaft, der Mensch sollte endlich in der Lage sein, ein würdiges Dasein zu führen. Schließlich bedingt Angst kein Mitgefühl und Menschen, die aufgrund eines anderen Aufbaus der Amygdala keine Angst empfinden können, werden auch nicht als Psychopathen mit Tendenz zur Kriminalität eingestuft.
[1]Siehe Dossier: Angst – Definition des Duden
[2]Maximilian Nowroth, 15. November 2017: https://orange.handelsblatt.com/artikel/36264, 23.07.2018, 10:27
[3]Aus Dossier: Spiegelmagazin – Lob der Angst
[4]Aus Dossier: Fluter – Auf der sicheren Seite
[5]Aus Dossier: Tagesspiegel – Deutschlands Angst vor dem Abstieg
[6]Aus Dossier: Zeit – Der Schattenmann
Neueste Kommentare