© Sara Kurfeß via Unsplash

Dank der Europäischen Union genießen wir innerhalb ihres Gebietes viele Privilegien wie Reisefreiheit, kostenloses Datenroaming und den seit Ende des zweiten Weltkriegs andauernden Frieden in Europa.
Doch manchen geht die EU nicht weit genug. Sie fordern etwas, das für die einen das Modell der Zukunft ist, für die anderen jedoch wie ein Albtraum erscheint: ein europäischer Staat, gegliedert in viele Teilstaaten. Dies mag zunächst revolutionär und futuristisch klingen, doch das Interessante an der Idee ist, dass sie schon Jahrhunderte alt ist.
Immer wieder bekundeten mehr oder weniger einflussreiche Herrscher, wie zum Beispiel der böhmische König George von Poděbrady im 15. Jahrhundert, ihr Interesse am Konzept eines vereinigten Europas.
Richtigen Aufschwung bekam die Idee aber erst durch die Gründung der Vereinigten Staaten von Amerika. Und angeblich glaubte sogar George Washington, der erste amerikanische Präsident, Europa solle es den USA gleichtun und die „Vereinigten Staaten von Europa“ ausrufen. In einem überlieferten Brief an den französischen General Marquis de La Fayette zeigte er sich fest davon überzeugt, dass diese Vision irgendwann zur Realität werden würde: 

„Wir haben ein Korn der Freiheit und Einheit gesät, das nach und nach auf der ganzen Welt keimen wird. Eines Tages werden, nach dem Muster der Vereinigten Staaten, die Vereinigten Staaten von Europa gegründet werden. Sie werden Gesetzgeber aller Nationalitäten sein.“

Auch historische Größen wie Benjamin Franklin, Winston Churchill, Konrad Adenauer und Helmut Kohl sprachen immer mal wieder von ihrer Unterstützung für einen gemeinsamen europäischen Staat.

Wie könnte ein solcher europäischer Staat aussehen?

Klar ist, dass man sich im Falle der Gründung eines einzelnen, europäischen Staates eher an der föderalen Struktur der USA orientieren würde als beispielsweise an der zentralistischen (ehemaligen) UdSSR. Der Begriff des „Europa der Regionen“ fällt in diesem Zusammenhang oft, noch populärer ist die Bezeichnung „Vereinigte Staaten von Europa“, mit klarer Referenz zu den USA. Und vergleicht man die EU einmal mit den USA, fällt auf, dass es trotz der massiven Differenzen gewisse Ähnlichkeiten gibt. Unter diesem Aspekt scheint ein föderales Europa gar nicht so weit weg von der Realität zu sein, wie man vielleicht annehmen würde. Und tatsächlich erfüllt die Europäische Union in ihrem jetzigen Zustand schon viele Kriterien eines Staates bzw. eines Staatenbundes. Es gibt einen gemeinsamen Wirtschaftsraum und eine gemeinsame Währung, ein Parlament, einen Gerichtshof, eine Regierung, eine Flagge, eine Hymne – die Liste ließe sich fortsetzen. Dennoch fehlen einige wichtige Elemente, die einen demokratischen Staat ausmachen, zum Beispiel eine Verfassung. Das nächste, was an eine europäische Verfassung herankommt, ist der Vertrag von Lissabon aus dem Jahre 2007. Weiter mangelt es der EU an einer einheitlichen Sprache, wobei hier sicher die naheliegendste Lösung die Weltsprache Englisch wäre. Eine Alternative könnte sein, alle Amtssprachen der Mitgliedsstaaten in den politischen Alltag zu integrieren und gleichwertig zu verwenden. Angesichts der schieren Anzahl an Sprachen wäre dies allerdings ein immenser bürokratischer Aufwand. Man sieht also, dass viele Fragen, welche einen hypothetischen europäischen Superstaat betreffen, noch mehr als offen sind und möglicherweise hohes Konfliktpotenzial bieten.

Welchen Nutzen würden die „USE“ bringen?

Aus wirtschaftlicher Sicht sind die Vorteile nicht von der Hand zu weisen. Man könnte sogar so weit gehen und behaupten, ein europäischer Superstaat wäre die einzige Möglichkeit für Europa und seine Länder, mit den politischen Weltmächten China und USA in Zukunft mitzuhalten. Man kann dies sogar konkret mit Zahlen belegen:
Gemessen am Bruttoinlandsprodukt ist die aktuell größte Wirtschaft der Welt die USA mit etwa 20 Mrd. US-$, gefolgt von China mit etwa 14 Mrd. US-$. Mit einigem Abstand folgt auf Platz drei Japan (5 Mrd. US-$), noch vor der stärksten europäischen Wirtschaftsnation, Deutschland (4 Mrd. US-$). Ganz anders sieht es aus, wenn man die Europäische Union als einen einzelnen Staat betrachtet. Mit einem BIP von etwa 18 Mrd. US-$ würde sie China vom zweiten Platz stoßen. Auch was die Bevölkerung angeht, stünde die EU (ca. 450 Mio. Einwohner) im Vergleich mit den USA (ca. 330 Mio.) und China (ca. 1,4 Mrd.) weitaus besser zusammen da, als jeder einzelne Mitgliedsstaat für sich alleine.
Manche träumen auch schon seit einer Weile von einer gemeinsamen europäischen Armee, was vor allem die militärische Abhängigkeit von den USA reduzieren würde. Doch es sollte dazugesagt werden, dass ein europäisches Militär nicht zwingend einem Staat „Europa“ vorbehalten ist, sondern auch im aktuellen Zustand der Europäischen Union realisiert werden könnte.

Der größte Preis eines föderalen europäischen Staates wäre wohl, die eigene nationale Souveränität aufzugeben – in den Augen vieler Nationen undenkbar. Andere befürchten zudem zu viel Bürokratie und zu wenig Demokratie. All das sind Phänomene, deren Entwicklung man seit Jahren in der Europäischen Union verfolgen kann. Kritiker eines föderalen Europas stellen also die berechtigte Frage, wie man als europäischer Staat konkrete gemeinsame Positionen und Maßnahmen zu drängenden Themen wie Klima- und Migrationspolitik finden will, wenn dies aktuell nicht einmal der EU gelingt. Verzettelung statt Vorwärtsgang scheint in Brüssel zu gelten. Zudem darf bei Vergleichen mit den USA nicht vergessen werden, dass die Geschichte von Europas Nationen viel weiter zurückgeht und jegliche kulturellen und politischen Differenzen viel tiefer in der Gesellschaft verankert sind. Bürger im Süden Spaniens beschäftigen wohl andere Dinge als jene in beispielsweise Lettland. Die aktuell 27 Mitgliedsstaaten mit den unterschiedlichsten Problemen und Interessen in einer Regierung unter einen Hut zu bringen, sodass sich möglichst viele Bürger aller Regionen vertreten fühlen, wäre eine Herkulesaufgabe, wie man eben auch heute schon gut am tendenziell zerstrittenen Zustand der EU sehen kann.
Andererseits könnte eine gemeinsame Regierung, welche auch offiziell und organisatorisch die eines Staates und nicht die einer Union mehrerer souveräner Einzelstaaten ist, dem entgegenwirken. Zumindest nach außen hin könnte man geschlossener auftreten und so möglicherweise global mehr Macht ausüben.

Wer würde einen europäischen Staat unterstützen?

Einige der großen deutschen Parteien wie die SPD, Bündnis ’90/Die Grünen und auch die FDP erwähnen die Befürwortung eines föderalen Europas in diversen Programmen.
So hieß es zum Beispiel schon 1925 im Heidelberger Programm der Sozialdemokraten:

„Sie [die SPD] tritt ein für die aus wirtschaftlichen Ursachen zwingend gewordene Schaffung der europäischen Wirtschaftseinheit, für die Bildung der Vereinigten Staaten von Europa, um damit zur Interessensolidarität der Völker aller Kontinente zu gelangen.“

https://www.marxists.org/deutsch/geschichte/deutsch/spd/1925/heidelberg.htm

Im Dezember 2017 sprach sich der damalige Kanzlerkandidat der SPD, Martin Schulz, auf dem sozialdemokratischen Parteitag vor 600 Delegierten ganz offen für die „Vereinigten Staaten von Europa“ aus.
Im Parteiprogramm der diesjährigen Bundestagswahl formulierten Bündnis ’90/DIE GRÜNEN folgende Vision:

Wir wollen [die „Konferenz zur Zukunft Europas“] nutzen für die nächste Phase der europäischen Integration auf dem Weg zur Föderalen Europäischen Republik und um europäische Antworten auf die großen Herausforderungen zu formulieren. 

https://cms.gruene.de/uploads/documents/Wahlprogramm-DIE-GRUENEN-Bundestagswahl-2021_barrierefrei.pdf

Im Wahlprogramm der FDP für die Bundestagswahl 2021 steht geschrieben:

„Wir Freie Demokraten wollen nach Abschluss der Konferenz zur Zukunft Europas einen Verfassungskonvent einberufen. Dieser Konvent sollte einer dezentral und föderal verfassten Union eine rechtsverbindliche Verfassung mit einem Grund- rechtekatalog und starken Institutionen geben. Über die neue Europäische Verfassung sollen die Bürgerinnen und Bürger der EU in einer gemeinsamen europäischen Volksabstimmung entscheiden und damit die Grundlage für einen föderal und dezentral verfassten Europäischen Bundesstaat schaffen.“

https://www.fdp.de/sites/default/files/2021-08/FDP_BTW2021_Wahlprogramm_1.pdf

Kein Wunder also, dass der Wunsch nach einem vereinigten Europa nun auch schwarz auf weiß im Koalitionsvertrag „Mehr Fortschritt wagen“ der brandneuen Ampelkoalition aus SPD, Bündnis ’90/DIE GRÜNEN und FDP festgeschrieben steht. Dort findet man auf Seite 131 im Wortlaut:

Die Konferenz zur Zukunft Europas nutzen wir für Reformen. Erforderliche Vertragsänderungen unterstützen wir. Die Konferenz sollte in einen verfassungsgebenden Konvent münden und zur Weiterentwicklung zu einem föderalen europäischen Bundesstaat führen, der dezentral auch nach den Grundsätzen der Subsidiarität und Verhältnismäßigkeit organisiert ist und die Grundrechtecharta zur Grundlage hat.

https://www.spd.de/fileadmin/Dokumente/Koalitionsvertrag/Koalitionsvertrag_2021-2025.pdf

Auch einige Politiker von Rang wie Ursula von der Leyen, Guy Verhofstadt, Emmanuel Macron und sogar Angela Merkel, haben sich schon für dieses oder ein ähnliches Konzept ausgesprochen. Auffällig ist, dass die meisten kritischen Stimmen des Modells „europäischer Staat“ von ganz rechts und ganz links kommen, während sich die meisten Unterstützer um die politische Mitte herum ansiedeln.

In den letzten Jahren hat die Idee eines föderalen Europas deutlich an Unterstützung gewonnen. Dies zeigt vor allem die Gründung der pan-europäischen Partei Volt im Jahre 2017 (damals unter dem Namen Vox), die sich explizit für einen europäischen Bundesstaat starkmacht. Pan-europäisch bedeutet in diesem Kontext, dass die Partei in jedem der EU zugehörigen Staaten sowohl zu lokalen, regionalen, nationalen als auch den alle fünf Jahre stattfindenden Europawahlen antritt. Die programmatische Schwäche Volts ist der Tatsache, dass die Partei so breit aufgestellt ist, geschuldet – schließlich will man in knapp 30 kulturell teilweise sehr unterschiedlichen Ländern Wähler für sich gewinnen. Die Ausrichtung der Partei kann am besten durch „sozialliberal, mit einem gewissen grünen Anstrich“ beschrieben werden. Von allem ein bisschen, aber nicht zu viel. Dennoch tritt Volt nach außen hin sehr selbstbewusst und progressiv auf. Bestens international vernetzt ist die Partei zudem, denn anders wäre eine Umsetzung des Projekts auch gar nicht möglich.
Der erste kleine Erfolg konnte schon zwei Jahre nach der Parteigründung erzielt werden, als Volt bei der Europawahl 2019 einen Sitz im Europäischen Parlament gewann und der Deutsche Damian Boeselager für die Partei ins Abgeordnetenhaus in Brüssel einzog. Die Mitglieder Volts wurden daraufhin aufgerufen, darüber abzustimmen, welcher Fraktion ihr Vertreter beitreten sollte. Das Ergebnis fiel auf die Grünen/EFA.
Dass Volt nicht noch weitere Sitze erobern konnte, lag neben dem noch niedrigen Bekanntheitsgrad und der möglicherweise politisch geringen Überzeugungskraft auch daran, dass es der Partei in einigen großen Ländern wie Frankreich, Italien und Österreich nicht gelang, die nötigen rechtlichen und finanziellen Voraussetzungen rechtzeitig vor der Wahl zu erfüllen, um letztendlich daran teilzunehmen. Dennoch geht vor allem die Mitgliederentwicklung der Partei steil nach oben; inzwischen sind es mehr als 25.000. Vor allem bei jungen Menschen, die in großen Städten leben, scheint Volt einen Nerv getroffen zu haben. Bestätigt wurde dies noch einmal durch die diesjährigen Kommunalwahlen in Hessen und die Parlamentswahlen in den Niederlanden. In Darmstadt erreichte Volt über 6% der Stimmen, in Frankfurt am Main und Wiesbaden über 3% – nicht schlecht für eine so junge Partei. Genauso gut lief es in den Niederlanden: Dort stimmten landesweit 3% für die pan-europäische Partei, was den Einzug in das nationale Parlament mit drei Sitzen bedeutet. Das beste Ergebnis holte Volt in der Hauptstadt Amsterdam mit 6%.

Es lässt sich aber auch feststellen: Das vielleicht Wichtigste zur Realisation eines europäischen Staates, die breite Unterstützung der Bevölkerung, fehlt noch immer. Eine legitime Gründung der „Vereinigten Staaten von Europa“ kann nur auf demokratischer Basis geschehen. Konkret ist damit die Mehrheit der europäischen Bürger in einer EU-weiten Volksabstimmung gemeint. Diese Mehrheit ist laut einigermaßen aktuellen Umfragen jedoch bei weitem nicht vorhanden. Die höchste Unterstützung gibt es einer Befragung des Meinungsforschungsinstituts YouGov aus dem Jahre 2017 nach in Deutschland und Frankreich, wo sich etwa 30% der Befragten für die „Vereinigten Staaten von Europa“ aussprachen. In den meisten anderen Ländern gefiel das Konzept jedoch weitaus weniger Menschen und die Ergebnisse pendelten sich bei etwa 10% ein. Die „Vereinigten Staaten von Europa“ bleiben momentan also eine Idee, deren Zeit in den Augen der meisten Europäer noch nicht gekommen ist. Die, die sich jene Vision auf ihre Fahnen geschrieben haben, werden aber weiterhin für das Erreichen ihres Traumes kämpfen, getreu dem Motto:

Was nicht ist, kann ja noch werden.

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