Hallo. Ich heiße Charlotte, bin vierzehn Jahre alt und hier auf der Schule – viele kennen mich vermutlich aus dem Unterricht oder aus Addita. Und ich bin „nicht straight“.
Nicht straight? Was bedeutet das?
Das bedeutet, dass ich mich nicht als hetero einstufe, das heißt, ich stehe nicht (nur) auf Jungen. Worauf ich dann stehe? Ich weiß es nicht genau, ich meine, ich bin erst vierzehn. Auf jeden Fall, wie gesagt, nicht nur auf Jungen, vielleicht auch gar nicht. Ich will mich auch gar nicht labeln, also benennen, was oder wer ich bin. Warum auch? Damit ich dann in der Schule als „die Lesbe“ oder ähnliches bekannt bin? Das setzt einen nur unter Druck. Und in gewisser Weise steht die LGBTQA*-Community (Sammelbegriff für Lesbian, Gay, Bisexual, Trans, Queer, Asexual und andere nicht-straighte Sexualitäten und Gender-Identitäten) genau gegen dieses Schubladendenken. Deshalb auch die Regenbogen-Flagge.
Wenn ich mich nicht mit einem Label versehen will – warum schreibe ich dann das hier? Darüber habe ich mir auch lange Gedanken gemacht. In der Zeit, in der ich herausgefunden habe, dass ich nicht hetero bin, habe ich mir sehr viele Beiträge und Videos im Internet dazu angeschaut. Ich kannte niemanden in meinem Umfeld, dem es ähnlich ging wie mir, also war das der einzige Weg zur Informationsrecherche. Was mir besonders geholfen hat, waren Texte von Menschen, die ebenfalls nicht straight sind, und die ihr persönliches Coming-Out beschrieben haben. Deshalb dieser Text hier. Vielleicht kann ich ja so andere Jugendliche und Erwachsene unterstützen und helfen, mehr Präsenz für derartige Themen in unserem Alltag zu schaffen.
In unserer Gesellschaft ist es normal, hetero zu sein. Homo-, Bi- und Pansexuelle und viele weitere sexuelle Orientierungen gehören der Minderheit an. Deshalb geht jeder davon aus, dass man ebenso ist. Weil das das einzige Vorbild ist, das man in der Gesellschaft sieht. Und solange dies so bleibt, ist ein Coming-Out noch notwendig. Zwar geht meine Sexualität grundsätzlich niemanden an, doch einerseits vermeidet ein Outing blöde Situationen und andererseits macht man sich erst dadurch für andere nicht-heterosexuelle-Menschen bemerkbar. Außerdem geht es beim Coming-Out ja nicht nur um das Mitteilen seiner Sexualität gegenüber anderen Menschen (äußeres Coming-Out), sondern auch gegenüber sich selbst (inneres Coming-Out).
Bei mir ist beides noch gar nicht lange her. Das erste Mal, dass ich mich selbst als nicht straight bezeichnet habe, liegt etwa ein Jahr zurück, doch auch davor war mir schon bewusst, dass ich auf Mädchen stehe, und im Nachhinein wird mir bewusst, dass ich Mädchen immer schon interessant fand.
Vor etwa einem Jahr war ich in ein Mädchen verliebt, zum ersten Mal bewusst. Es war, wie Verliebtsein halt so ist. Da gibt es keinen Unterschied, ob man in einen Jungen oder in ein Mädchen verliebt ist. Natürlich habe ich es ihr nicht gesagt. Ich habe ihr einen Brief geschrieben, nicht, um ihn wirklich abzuschicken, sondern um mir selbst meiner Gefühle bewusst zu werden.
„Ich wäre gerne dieser Junge, mit dem du einmal zusammen sein wirst.“
Als ich diesen Brief einige Wochen später erneut durchgelesen habe, war ich geschockt, was für Gefühle ich für das Mädchen empfunden habe. Der Gedanke, lesbisch zu sein, war einfach nicht normal – in meinem Umfeld kannte ich niemanden. Doch er lies sich nicht verbannen, egal, wie sehr ich es versucht habe.
Ich weiß nicht, wie oft ich Fragen wie „bin ich lesbisch“ bei google eingegeben habe, wie oft ich auf teste-dich einen der vielen unnötigen Fragebogen ausgefüllt habe, um mich „diagnostizieren“ zu lassen (diese Fragebogen sind wirklich schlecht, lasst es lieber). Wie viele Texte ich zu dem Thema gelesen habe, wie viele Videos ich mir auf Youtube angeschaut habe. Wie viele Texte ich selbst geschrieben habe, nur um sie dann wieder zu zerreißen.
Aber dies alles gehörte zum Prozess meines inneren Outings: Mir selbst darüber klar werden, dass ich nicht straight bin. Dieser Schritt kann lange dauern, sehr lange, manchmal Jahre. Manche Menschen werden sich ihrer Sexualität erst bewusst, nachdem sie schon mehrere hetero-Beziehungen hinter sich haben. Es gibt sogar Rentner, die sich plötzlich outen.
Nachdem ich mir eingestanden hatte, dass ich nicht straight bin, war das Youtube-Binge-Watching jedoch nicht vorbei, noch lange nicht. Jetzt galt es, mich damit zu identifizieren. Zu sehen, wie viele andere Menschen es gibt, die genauso sind, wenn nicht im Freundes- oder Bekanntenkreis, dann im worldwide web.
Und schließlich die Frage: Was mache ich jetzt damit? Was fange ich mit dieser Erkenntnis an? Teile ich sie den Menschen in meinem Umfeld mit oder nicht? Und wenn ja, wem? Wie werden meine Freunde reagieren, wie meine Eltern? Werden sie es völlig cool und offen aufnehmen, oder werden sie sich erst einmal von mir distanzieren, eventuell mit der Angst, sich „anstecken“ zu können?
Fragen über Fragen, Bedenken über Bedenken. Das innere Outing ist in sofern schwer, als dass man sich selbst nie ganz sicher ist, doch in sofern leicht, als dass man diesen Prozess alleine macht, dass niemand davon weiß. Das ist beim äußeren Outing anders.
Ich habe dann beschlossen, es erst meinen Freunden hier am LGH zu erzählen. Einerseits, weil das LGH generell eine Schule ist, die damit sehr offen umgeht, und andererseits, weil eine negative Reaktion von den Freunden doch leichter zu verkraften ist als eine von den Eltern und der Familie.
Mein größtes Bedenken war, dass sich meine Freunde von mir distanzieren könnten. Dass sich insbesondere Freundinnen in meiner Gegenwart seltsam fühlen würden, weil sie nicht wissen, wie viel Körperkontakt okay ist. Dass Emojis wie Herzen plötzlich aus den Chats evakuiert werden, weil man ja falsche Zeichen setzen könnte. Natürlich ist dem nicht so. Ein hetero-Mädchen hat ja auch nicht bei jedem Jungen Angst, dass er in sie verliebt sein könnte – warum sollte also jedes lesbische Mädchen auf es stehen?
Und wie sich gezeigt hat, waren meine Bedenken – zum Glück – wirklich ungerechtfertigt. Alle meine Freunde haben es gut aufgenommen; ich hatte und habe bei niemandem das Gefühl, dass er sich deswegen unsicher fühlt und sich distanziert. Und darüber bin ich wirklich froh.
Ich glaube, das Wichtigste beim äußeren Coming-Out ist, dass die erste Reaktion positiv ist. Nur so fühlt man sich unterstützt und bekräftigt in seinem Weg und in seiner Identität. Deshalb ist es hilfreich, wenn man sich bei der ersten Person, der man es erzählen möchte, ziemlich sicher ist, dass sie gut reagiert. Am besten redet man schon vorher einmal über das Thema Homosexualität, um zu prüfen, wie sie grundsätzlich darauf reagiert. Natürlich ist das kein hundertprozent eindeutiges Indiz. Es kann immer sein, dass eine Person, bei der man es vorher nicht erwartet hätte, homophob reagiert oder es im ersten Augenblick so wirkt. Aber erstens ist dies unwahrscheinlicher, wenn sie generell positiv gegenüber zum Beispiel der Ehe für Alle steht, und zweitens, so hart es immer klingt – wer dich nicht akzeptiert, so wie du bist, der ist deine Freundschaft nicht wert.
Sobald ich es einer ersten Freundin gesagt hatte, lief der Rest „wie am Schnürchen“. Ich wurde von Outing zu Outing offener, und die bereits „eingeweihten“ Freunde haben mich sehr stark unterstützt, obwohl ihre Erfahrungen mit den Themen sehr unterschiedlich waren. Doch letzteres ist nicht schlimm. Ich persönlich finde es gut, wenn sich Leute dafür interessieren und mir Fragen dazu stellen, denn das zeigt, dass sie sich wirklich damit beschäftigen wollen. Und auch mir hilft es, mit anderen darüber zu reden.
Dies alles geschah in den ersten Monaten dieses Jahres. Soweit, so gut. Von meinen Freunden wussten es mittlerweile relativ viele – nur meine Familie noch nicht. Vor dem Outing ihnen gegenüber hatte ich die meiste Angst. Denn selbst wenn man am Internat lebt, ist man an den B-Wochenenden zuhause und wenn man dort das Gefühl hat, nicht willkommen zu sein, kann es sehr schnell sehr problematisch werden.
Die zweite sehr intensive Internet-Recherche begann, diesmal zu dem Thema Coming-Out gegenüber den Eltern. Diverse Wiki-how-Anleitungen, Blogartikel und Youtube-Videos später wusste ich immer noch nicht, ob und wenn ja, wie ich es anstellen sollte. Ich wünschte mir, mit Menschen darüber reden zu können, die ihr Outing bereits hinter sich hatten, aber – wie bereits erwähnt – waren die in meinem Umfeld nicht vorhanden.
Über das Internet stieß ich schließlich auf eine Jugendgruppe in meiner Heimatstadt (in Schwäbisch-Gmünd gibt es wie erwartet keine…) für Schwule, Lesben und Bisexuelle. Am nächsten B-Freitag beschloss ich, den Schritt zu wagen und dort hinzugehen. Und es war ein voller Erfolg: Erstens lernte ich endlich Menschen kennen, die wie ich nicht straight sind, und zweitens konnte ich mit diesen Menschen eben über das Coming-Out reden. Die Meinungen waren sehr geteilt; viele hatten sich erst bei ihren Eltern geoutet, als sie bereits ausgezogen waren. Doch da fast keiner von einer negativen Reaktion erzählte, habe ich schließlich den Beschluss gefasst, es zu wagen. Als Deadline setzte ich mir das Ende der Osterferien. Und meine Eltern machten es mir leicht: in einem Gespräch über ein Paar aus meiner Klasse meinte meine Mutter, sie sei schon gespannt, wann ich meinen ersten Freund nach Hause bringen würde. Nun ja…
Ich habe es dann meinen Eltern gesagt. Ich wusste, dass sie nicht homophob waren, was die Sache deutlich erleichtert hat. Und wie bei den Freunden auch war ihre Reaktion ebenfalls positiv, auch wenn sie zunächst recht überrascht waren und das Thema für sie auch kein „vertrautes Terrain“ war. Ich meine, wer liest schon vorsichtshalber Ratgeber durch, „Hilfe! Mein Kind ist homosexuell!“ oder „Wie reagiere ich auf ein Coming-Out?“? Wohl die wenigsten.
Wo ich gerade schon bei der Frage auf die beste Reaktion auf ein Outing bin: Das wichtigste ist definitiv Offenheit und Toleranz. Selbst wenn man bis jetzt nicht viel mit dem Thema zu tun hatte, bis auf die beiläufige Beleidigung „Schwuchtel“, sollte man versuchen, den anderen zu verstehen und ihm das Gefühl zu geben, dass es in Ordnung ist – denn das ist es. Was auch hilfreich gegen die Bedenken der Distanzierung ist, ist zum Beispiel eine Umarmung. Dadurch zeigt man der Person eindeutig, dass man deshalb keinen Abstand von ihr halten möchte und alles so weitergehen kann, wie bisher. Und was man definitiv vermeiden sollte, zumindest in den ersten Gesprächen, sind Bemerkungen wie „Das ist nur eine Phase“ oder „Also biologisch gesehen passt das ja nicht so ganz…“. Denn dadurch zeigt man der Person, dass man sie nicht ernst nimmt und dass etwas mit ihr nicht richtig ist. Auch Argumentationen mit der Bibel sind in der Regel mehr als nur kontraproduktiv.
Das Outing bei meinen Eltern war für mich persönlich der letzte wirklich wichtige Schritt. Ich bin ja schließlich nicht dazu verpflichtet, zu jedem hinzurennen und ihn über meine Sexualität aufzuklären, als wäre das etwas krass Spannendes oder so.
Ich möchte einfach dafür sorgen, dass es normal wird. Dass Menschen sehen, dass es so etwas gibt. Und dass das keine Krankheit ist, sondern einfach nur Liebe.
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