Wenn einer meiner Freunde mich mal wieder fragt „Wie ist es so als Lehrer?“, dann kommen mir direkt zwei Episoden meines jungen Lehrerlebens in den Sinn, die beide mit eigentlich einfachen Alltagsgegenständen zu tun haben: Einem Schlüssel und einem Stift besonderer Farbe. Aber von vorne.
Episode I: Das Erwachen der Macht
An einem Morgen vor fast genau zwei Jahren, acht Jahre nachdem ich zuletzt eine Schule betreten habe. Ich sitze gemeinsam mit vier weiteren Neulehrern an einem Tisch im Schulleitungsbüro und bekomme Schlüssel. Meine Schlüssel zur anderen Seite DER Tür. Nachdem das Ritual „Ihr Schlüssel. Ihre Unterschrift!“ mehrfach wiederholt wurde, gehen wir von dannen. Mir dämmert: Jetzt bin ich einer von denen. Ich schaue auf die Uhr. In 30 Sekunden klingelt es. Wo muss ich hin? Wo ist dieses Zimmer? Aus dem off vernehme ich Wortfetzen „Bäcker“, „Hausaufgaben“, „Frau Biesinger“ und „Deutsch“ sind einige davon. Ich gehe weiter. Dann ist es da wieder: „Frau Biesinger!“ – dieses mal etwas lauter. Ich gehe weiter: Frau Biesinger, das ist meine Mutter. Schließlich wieder. Fast schon verzweifelt „Frau Biesinger!?“. Nun drehe ich mich doch um und da steht sie, die erste Schülerin, die mich mit meiner neuen Identität anspricht. In ihren Augen sehe ich zwei Gedanken: „Habe ich den Namen richtig ausgesprochen? Heißen Sie wirklich so?“ Aber sie fragt: „Können Sie uns die Tür aufschließen?“ Verblüfft von mir selbst sage ich etwas ungläubig: „Kann ich!“
Nach dem ersten Tag wird eigentlich alles ziemlich schnell Routine. Bis es soweit ist: Die erste Klassenarbeit. Oder eigentlich irgendeine Klassenarbeit, denn auch für Lehrer ist keine wie die andere. Die Ausreißer des Schulalltags.
Episode II: Die dunkelrote Bedrohung
Meine beiden Laster am Morgen sind ganz klar: Kaffee und Zeitung lesen. Ich kann weder ohne das eine noch ohne das andere. Als Gemeinschaftskundelehrer hat man jedoch ein Problem: Man kann keine Zeitung mehr lesen ohne zu überlegen, ob dieser Text für den Unterricht zu gebrauchen ist. Oft lautet die Erkenntnis nein. In seltenen Fällen ja. Und dann gibt es die Artikel bei denen sich die Nackenhaare aufstellen und Tor drei aufgeht: Klausurtauglich!
Klassenarbeiten zusammenstellen finde ich viel schlimmer als sie zu korrigieren. Das sind die Momente in denen man sich als Lehrer zu viele (eigene) Gedanken macht. Wie verstehe ich den Text? Was kann man noch darin sehen? Ist die Karikatur deutlich genug? Wer ist eigentlich dieser Experte? Tausende von Fragen. Und dann die Verben – Entschuldigung: „Operatoren“. Beschreiben, begründen, bewerten… kleine Worte, große Wirkung.
Schließlich ist der Moment da: „1, 2 oder 3 – das ist eine Hexerei. Ob ihr wirklich richtig steht, seht ihr wenn das Licht angeht“ – oder wenn die Zeit um ist. Klausuren gehen lange. Auch für Lehrer. Man schaut die Gesichter an, man hofft, man bangt, ja, man betet.
Zurück zu Hause nehme ich mir jedes Mal vor, die Klassenarbeiten erst mal liegen zu lassen. Schaffen tue ich es fast nie. Ich will wissen, wer welche Meinung hat, wer wo Lücken gelassen hat und wer heute überrascht. Im positiven und im negativen. Also nehme ich die erste vom Stapel. Ich lese. Ich schaue nochmal auf die Aufgabenstellung und denke „Warum? Es steht doch da.“ Ich dränge das Sprichwort „Wer lesen kann ist klar im Vorteil“ beiseite und denke nach. Wie kommt man auf diese Antwort? Was hat sich der Schüler dabei gedacht? Also geht es los, Rotstift in der Hand.
Als Lehrerkind bin ich damit aufgewachsen „lustige“ Schülerantworten zu lesen. Der Favorit meiner Kindheit waren 18 verschiedene Möglichkeiten die Zahl 3 in Worten auf Englisch zu schreiben. Bei 24 Schülern. Mein Vater hat nach der fünften Antwort angefangen eine Tabelle zu fertigen. Ich habe versucht zu verstehen, warum Schüler three auf einmal mit „w“ schreiben (thwi) oder mit „s“ und „y“ (sry). Manchmal hat man Erfolg, manchmal nicht.
Als Lehrer lache, leide und rede ich mit mir selbst beim Korrigieren. Jeder Lehrer den ich kenne tut das. Es ist die einzige Möglichkeit bei der Vielzahl der Antworten die richtige nicht selbst zu vergessen. All das kann der Rotstift nicht ausdrücken. Am Ende meiner Auseinandersetzung mit dem Schülerprodukt stehen dort Häkchen, Kürzel und eine Zahl. Alles in rot. Das wars? Dafür habe ich an zahlreichen Frühstücken mein Müsli durchweichen lassen, um die Schere zu finden?
Dieser farbige Stift – als Inhaber des Schlüssels zu DER Tür MEIN Stift und MEINE Farbe – kann so vieles nicht festhalten. Den Schweiß, die nicht zu Papier gebrachten Gedanken der Schüler, die man als Lehrer verzweifelt versucht einzusetzen. Und den Stolz. Den Stolz wenn das wieder einmal gelingt. Die erste „three“ meines eigenen Lehrerlebens war der Satz „Can you imagine a book please.“ Die Antwort eines Siebtklässlers auf die Aufgabenstellung „Use the word imagine in a complete and correct English sentence.“ Complete ist der Satz definitiv (Subject, Verb, Object – alles vorhanden). (Grammatikalisch) korrekt auch. Aber was will er mir sagen? 10 Minuten angestrengtes Nachdenken. Gespräche mit Kollegen. Stirnrunzeln. Und dann die Erkenntnis. „Vorstellen/Präsentieren“. „Ein Buch vorstellen“. Für den Schüler ein „f“ in roter Farbe. Für mich viel mehr: Für mich eine Erinnerung.
~Lena Biesinger
Hier zum ersten Artikel der Serie.
Bild: Merlin Krzemien
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