Einblicke von jenseits des Lehrerpultes
von Dr. Frank Prietz
» Erlaubt mir einstweilen, meinem gegenwärtigen oder künftigen Leser einen Rat zu geben, so er tatsächlich Melancholiker ist: er sollte die Symptome oder Prognosen im folgenden Teil lieber nicht lesen, damit er sich nicht beunruhigt und am Ende mehr Schaden als Nutzen daraus zieht, indem er das Gelesene auf sich selbst bezieht, wie es die meisten Melancholiker tun. « – Robert Burton, Anatomy of Melancholy. Oxford 1621, Einführung.
Zugegeben, das hätte man vorher wissen können. Das wusste man schon, lange bevor man im Studium dem Ende zustrebte. Und das hatte man als festes Wissen aus der eigenen Schulzeit mit hinüber auf die andere Seite der Macht gerettet. Und doch: Die Wucht der Erkenntnis – jedes Mal aufs Neue – trifft einen nicht geradlinig bei offenem Visier, nein, das ist ein subtiler Prozess, der sich durch die Hintertür schleicht: Diese Korrigiererei zeitigt persönlichkeitsverändernde Merkmale, Wesenszüge, die man sich selbst in den kühnsten Träumen nicht zugeschrieben hätte – freilich, geahnt, nein, gewusst (!) hatte man es schon. Aber wer nie dabei war, der weiß nicht, was das aus einem macht…
Es geht harmlos los: Oberstufenklausur Deutsch. Naja, 20 Arbeiten – weniger als an vielen Schulen! Alles kein Thema, man ist erfahren, man kann routiniert Aufgaben erstellen („Verdammt noch mal, wo ist denn jetzt der Erwartungshorizont, den mir der Referendarskollege damals in Papierform gab? Ach es geht auch ohne!“).
Dann wird es schon etwas subtiler: Terminsetzung im Rektorat. Es gilt, sich gegen die Fremdsprachler und Mathematiker durchzusetzen, doch was sage ich: durchzuboxen! Hier darf man nicht auf Verständnis hoffen, homo hominis Lupus! Unvergessen ein Zitat in dieser Runde eines Mathekollegen: „Ich nehm den Freitag, dann kann ich sie abends korrigieren und am Samstag rausgeben.“ Argh!!! Aber ja, man hätte es vorher wissen können! So entstehen Neid und Missgunst in selbst dem philanthropischsten aller Germanisten – und da ist noch kein Streich korrigiert, kein fehlendes Komma angemahnt (ihrer sind Legionen), keine noch so hanebüchene Stilblüte zerrupft!
Die Korrektur ist es schließlich, die den Lehrer zu dem macht, was er ist, und hier ist es an der Zeit, ein altes Vorurteil zur Seite zu räumen: Lehrer lieben die Macht nicht. Lehrer wollen keine Noten geben. Lehrer wollen niemandem etwas reindrücken, niemanden runterkorrigieren…sie wollen gar nicht korrigieren, sie wollen nicht Herr über das Schicksal des fehlgeleiteten Sprösslings aus gutem Hause sein und sie wollen vor allem nicht die Macht haben, über Lebenschancen zu entscheiden. Das Dumme nur: Alle wollen, dass Lehrer das tun! Angefangen bei den Schülern, die hier eine Klarheit einfordern, die es ja meist gar nicht gibt. Und dann die Eltern erst! Keine Noten, das ist Gemeinschaftsschule, aber doch nicht gymnasialer Standard. Also gut, dann geben wir sie eben, aber eigentlich ist es doch so: Die Macht haben die Schüler! Schreibe unleserlich und du bestimmst über die Zeit des Lehrers. Halte Kommata für überflüssiges, überdies lediglich schmückendes Beiwerk (und fern sei uns ein allzu ornamentaler Stil!) und du hast den größten Einfluss auf die sozioemotionale Entwicklung des Herrn Studienrates, der – gemäß seines gesellschaftlichen Auftrages – jedes noch so kleine fehlende Jota anzustreichen hat! Oder schließlich: Begib dich thematisch auf abseitigste Abwege, verquicke Nietzsche mit Harry Potter – oder noch besser: Pflege ein Deutsch, das zwar wie ein solches daherkommt, bei genauerer Betrachtung aber keines ist! Vermeide sinnhafte Aussagen in schlankem Duktus, verschwurbele vielmehr alles syntaktisch Mögliche und Unmögliche zu einem quasi-intellektuellen Brei und erwarte gespannt, was dir der feinsinnige Akademiker nach einem furchtbar durchlittenen Korrekturwochenende unter dieses Konvolut sinnfreier Syntax an Kommentaren und Verbesserungsvorschlägen schreibt. Das ist wahre Macht: anderen die Zeit stehlen oder ihnen unlösbare Aufgaben – auch graphiologischer Art – zu stellen. Kostprobe gefällig? Gerne, im Folgenden ein Original aus einer Abiturklausur jüngerer Zeit:
„Der Expressionismus stand für keine hermetische, sondern [für eine] offen sachlichere Dichtung im Kontrast zu Impressionismus und Symbolismus, die sich der Maxime des „l´art pour l`art“ – Kunst um der Kunst willen – einem von Goutier geprägten Ausdruck, der sich bis heute – wie beispielsweise in lateinischer Form („ars gratia artis“) im Vorspann von Filmen der Metro Goldwyn Mayer hält, verschrieben hat: „Je suis un homme pour qui la monde visible n´existe pas“ (Goutier).“
Wohin das führt? Es beginnt harmlos mit einem erhöhten Espressokonsum, dann sieht man den Korrektor, der sich von all seinen Lieben abgeschottet hat und so nach und nach bedenklicher Isolation ausgesetzt ist, peripatetisch im Zimmer auf- und abwandern, als gelte es, die Wege des Geistes der Schüler noch einmal in realiter nachzugehen. Bald schon wird man ihn beim Gehen reden hören. Gerade diese in völliger Dissozialität stattfindende Kommunikation ohne Rezipient wird bei Außenstehenden schlimmste Befürchtungen hervorrufen.
Später dann windet sich der Korrektor, nur unter Schmerzen kann er manchmal die mit scharfem Meißel des Intellekts aus dem archaischen Fels der deutschen Sprache herausgestanzten Kleinodien deutscher Zunge nachvollziehen. Gleichsam körperlich wird dann die Pein, wenn das oft Gesagte (zum Beispiel zum Thema indirekte Rede) den Schülerhirnen offensichtlich abhandengekommen ist, als hätte jenen der plötzliche Wunsch nach Abkühlung befohlen, den Fluss Lethe zu durchschwimmen.
Und so müht sich der Korrektor, schwingt sich nicht zu edler Einfalt und stiller Größe auf, begreift nichts Erhabenes in seinem Tun, sondern erfährt in absoluter Selbstreferentialität den Rotstift in seiner banalen Sachlichkeit als das was er ist: Ein Werkzeug der Strafe und des Strafvollzugs in einem – für ihn selbst.
Er hätte es wissen müssen!
Bild: Wenke Grahneis
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