Dass wir als Spezies das Konzept der Realität verachten, sollte bekannt sein. Ohne eine grundsätzliche, omnipräsente Aversion gegen die unmanipulierte Gegenwart wären weder Literatur noch LSD je geboren worden. Sowohl Shakespeare als auch Pablo Escobar wären als arme Männer gestorben und weder Jesus noch J. R. R. Tolkien würden über derartig monumentale, teils fanatisch-langbärtige Anhängerschaften verfügen.
In unseren sozialen Gefilden sind wir stets gezwungen, uns zu einer der Fronten des Realismus, Optimismus, Pessimismus oder gar der strikten Apathie zu bekennen. Wir haben die angeborene Pflicht, Stellung zur unausweichlichen Frage der Realität zu beziehen, ob wir sie hassen, lieben, ignorieren oder mit allen Mitteln verzerren. Für ambitionierte Denker bietet das Konzept der Existenz in realem Raum sogar noch unzählige weitere Optionen, wie „Woher weiß ich, dass ich real bin?“, „Nimmt jeder Mensch die Realität als Grundbaustein seiner Wahrnehmung so wahr wie ich oder sind all unsere Empfindungen von Anfang an subjektiv und ist eine universelle Realität somit nicht existent?“ und „Wie kann bei einmal hin wirklich alles drin sein?“
Die nackte Realität ist für uns alle meistens irgendwie hässlich. Durch Meinungen und Ablenkung spinnen wir ihr ein feines Gewand und ziehen ihr mit jedem Tag ein anderes Kleid an. Fiktion ist ein hübsches Beinkleid und Ignoranz ein modisches Accessoire. Wir alle werden zu Designern, manche gar so talentiert, dass ihre Abänderungen zu begehrten Vorstellungen werden – wer hätte nicht gerne, dass Joanne K. Rowling der eigenen Wirklichkeit ein magischeres Outfit zaubert?
Wir müssen ja noch nicht einmal die künstliche Realität neuartiger Medien präferieren, auch off-screen kann man Wirklichkeitsflucht in kleinen Druckbuchstaben umsetzen; niemand, der unsere modernen Privilegien genießt, säße gerne auf dem eisernen Thron, niemand möchte in dem monotonen Leben einer Elizabeth Bennet gefangen sein, egal, wie anmutend es Jane Austen darlegt, und dennoch lechzen wir kollektiv nach dem erfrischenden Tropfen der Fiktion auf dem heißen Stein des banalen Alltags. Aber die Möglichkeiten werden immer exotischer, elaborierte Angebote wie das Paradoxon der Virtual Reality fluten Märkte und treiben unsere Ansprüche ins Unermessliche. Wer als Kind einen Pappkarton brauchte, um ein Flugzeug zu bauen, kann heute auf Knopfdruck exquisit gestaltete virtuelle Raumstationen besuchen, die durch tragbare rosarote VR-Brillen direkt über unseren Köpfen zu schweben scheinen. Doch bevor ich pauschal Technologien in den metaphorischen Dreck ziehe, die uns dem Einfluss unserer eigenen Augen und Ohren elegant entziehen, möchte ich anmerken, dass noch niemand in fiktionalen (Licht – bzw. Schall-)Wellen ertrunken ist.
Es gibt ungesündere Arten, die Realität zu ertränken, jede einzelne davon ist teuer und kostet im Endeffekt sogar das Leben. Drogen gehen dauerhaft auf die Leber und den zuständigen realitätsschützenden, exekutiven Autoritäten auf den Sack. Aber warum? Weshalb sind wir als Menschen so destruktiv, dass wir unsere Körper zerstören, unsere Augen ein Leben lang an Bildschirme und Papier fesseln, weil der Blick über den iPad- oder Glasrand zu langweilig erscheint? Weshalb ist es unser Fluch, unsere Gegenwart und Existenz konsequent gedanklich zu zerstückeln und auf leicht veränderte Weise wieder aufzubauen, weshalb fungiert die Realität als unser Sandkasten? Und warum können wir dem Sandkasten nie lebendig entfliehen? Warum hält er uns gefangen wie Treibsand und kriecht in jeden Winkel der Räume, die wir spezifisch geschaffen haben, um ihn auszuschließen?
Wie man sieht, konnte ich eine ganze Weile lang nicht schlafen. Es ist unklar, was es mir als Individuum bringt, über die Bewusstseinsebene, die uns im Klammergriff hält, zu reflektieren – ein zu großes Bewusstsein der eigenen Existenz bringt niemals Glück. Was man gegen dieses Unglück tun kann? Es teilen. Glückwunsch. Ich habe euch soeben alle infiziert.
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