Licht ein – Vorhang auf: Wut und Scham brennen auf ihren Wangen. Sie hat es nicht verursacht, es nicht angestoßen, sich nur nicht hinab reißen lassen. Und nun steht sie hier, und muss diesen Scherbenhaufen betrachten. Ein Leben, das in wenigen Stunden zu einem Sammelsurium gescheiterter Versuche zusammengeklappt ist. Erst aus dem Unterricht, dann von der Schule geworfen. Die Eltern in Unverständnis abgewendet, die Freunde in Selbstschutz zurückgezogen. Und – Klappe, Szene eins des dystopischen Jugendromans. Und zudem ein Drama, das die Spannung des Alltags bei weitem übertrifft – was einem mit der beunruhigenden irrationalen Abwägung zwischen Katastrophe und Langeweile zurücklässt.
Wie jeder stolze LGH-ler habe ich mich auch heute für die lukrative, aber unwahrscheinliche Option entschieden: An der Straßenseite auf eine Lücke im Verkehr warten, statt sich zur Ampel zu bewegen. Die Kombination aus gezwungener Wartezeit und hohen Geschwindigkeiten ist eine problematische – sie lässt mein Kopfkino starten. Ich bin höchstens 165 cm von einer direkten Kollision entfernt. Keine fünf Sekunden würde es dauern, und alles wäre anders. Wochen im Krankenhaus, zu wiederholender Stoff, wer würde zu Besuch kommen? Anders, neu, herausfordernd – oh, die Lücke. Die Ampel wäre mal wieder schneller gewesen.
Es sind diese kurzen Momente, in denen mein Gehirn, so scheint es, nicht ausgelastet ist, die mich vor meinen eigenen Gedanken erschaudern lassen. Dabei variieren die gezeigten Filme meines Kopfkinos in ähnlichem Ausmaß wie auch im echten: Von romantischen Komödien über beeindruckende Karrieren zu dystopischen Thrillern ist alles vorhanden. Doch jeder Film verliert nicht durch seine Wiederholungen, sondern durch den Transfer in die Realität seinen Reiz.
Wer an diesem Punkt mit hochgezogener Augenbraue und irritiert-besorgtem Gesichtsausdruck weiterliest, der sei beruhigt: Im Versuch, meinem eigenen Kopf wieder zu vertrauen, bin ich zu der Erkenntnis gekommen, dass keiner der Tag(alb)träume als solcher Reiz besitzt: Es ist die Variation, die mich einige Minuten bannt. Ein Zwang, neu anzufangen, sich neu anzupassen, einen neuen Weg zu finden – außerhalb des Alltags, in dem eine jede Bewegung berechenbar geworden ist. Nur schließt das Kriterium „herausfordernd“ eben Dramen nicht aus. Und während in den verwandten Kategorien mein verbliebener Verstand vehement die Augenbrauen hochzieht und die Kontrolle über meine Handlungen übernimmt, ist es hier schwerer zu differenzieren, ob ich noch sinnvoll oder auf Rat meines ganz persönlichen high sensation seeking Sherlock Holmes agiere.
Verstörend wird dann der verzweifelte Versuch, abzuwägen, ob man ein Risiko nun für den möglichen Gewinn oder die Außergewöhnlichkeit dessen eingehen will. In den letzteren 50% endet das Vorhaben dann nämlich nicht in Zufriedenheit, sondern kurzfristiger Freude und der Eliminierung eines weiteren Films. Und spätestens, wenn die Zeit für diese Abwägung fehlt, dann wird mein Handeln neben nachvollziehbaren Motivationen unweigerlich vom Dramenpotential bestimmt.
Diese Diktatur entzieht sich jeglicher Kontrolle: Sie widerspricht nicht nur jeglicher Rationalität, sondern auch ganz direkt meinen eigentlichen Zielen: Ich will weder die Schule abbrechen, noch Schule verpassen, noch Freunde verlieren, noch mich allein durchs Leben schlagen müssen, aber – interessant wäre es ja schon…wäre nicht das Bewusstsein darüber existent, dass jedes Szenario in dem Erlebnis seine Besonderheit einbüßt. Aber mit Logik ist dem Reiz des Unbekannten nicht beizukommen – die 90% meines sinnvollen Verstandes haben keinerlei Mitbestimmungsrecht.
Doch wo das Drama der wünschenswerten Realität wenigstens klar konträr gegenüber steht, ist Widerstand zumindest vorprogrammiert. Die Situation bringt mich erst ins Schwitzen, wenn die Motivationslage unklar wird, da auch ein kleiner rationaler Teil den Plan unterstützt. Besonders vertrackt, wenn das dann mit der Tendenz zur Sturheit zusammenkommt. Wäre diese Diskussion jetzt notwendig gewesen? Vermutlich nein. Aber konnte man mit ihr ein wenig herausgefordert werden? Schon eher. Habe ich mein Gegenüber nun sinnvoll auf die Pluralität der Ansichten aufmerksam gemacht – oder nur genervt, um ein bisschen provoziert zu haben? An diesem Punkt bin ich mir selbst nicht immer sicher…
Und jetzt sitze ich vor diesem Text. Er ist nicht weltbewegend. Aber, wie ein paar Unterhaltungen über meine innere Dramen-Diktatur mit Freunden und Eltern gezeigt haben, doch für viele seltsam. Führt er zu Verständnis – oder doch eher zu irrtierten Blicken, für die ich mit ein paar wenigen Worten wahnsinnig geworden bin? Oder er zieht gar keine Reaktion nach sich. Und erst das würde mich enttäuschen. Shit. Also wäre eine Veröffentlichung auch ein bisschen diktiert. Tja, zumindest partiell scheine ich diesen Teil von mir doch zu akzeptieren…
–Vom Fensterbrett aus wirkt alles plötzlich ein kleines bisschen kleiner – Probleme liegen im Schulranzen in gutem Sicherheitsabstand, geliebt-gehasste Menschen bewegen sich in kleineren Varianten weit unter einem, und von hier oben scheint man sogar nahezu eine Welt jenseits des Campus zu erkennen. Mit einer Tasse Tee, direkt über der vielleicht sogar wirklich funktionierenden Heizung, kann der Blick ein wenig weiter schweifen – und ein wenig weiter betrachten, was im Alltag untergeht.
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