…für die meisten der Zehntklässler hat das vermutlich gereicht, um eine Reihe von Assoziationen hervorzurufen – für all die Glücklichen in Erwartung oder Überlebenden dieser Phase: ja, es geht um den Wahlzettel für die Oberstufe.
DEN Wahlzettel. So unschuldig wurde er uns untergejubelt, verdeckt durch die zugehörige Mappe mit scheinheilig lächelnden, augenscheinlich ausgeschlafene Schülern auf dem Cover – das hätte uns wohl bereits skeptisch werden lassen sollen. Doch es sollte nicht lange dauern, bis wir eben diese Mappe nicht mehr aus dem Kopf bekamen. Und so wurde sie zum Gegenstand unzähliger Diskussionen; füllte die lautlose Lücke eines jeden GM-Gespräches, folgend auf den tatsächlich sinnvollen Abschnitt über Noten und Klausuren, aber eben noch vor dem weit größeren Teil, der wahlweise Serien, Sport, Politik oder versuchsweise subtiles Lästern thematisiert; und für mich ebenfalls Anlass für zwei, seit gestern drei Dellen in meinem Schreibtisch. Doch wie konnte es so weit kommen?
Stufe I. – Hoffnung
Nun endlich ist es also so weit! Jahre musste man sich dem Stundenplan bedingungslos beugen, Fremdsprachen wählen, in deren Heimatländer man nicht zu gehen plante, und vor allem, stoisch der Hypnose-würdigen Wirkung des Erdkunde-, Verzeihung, Geographie – Unterrichtes trotzen. Man sah seine Individualität bereits begraben unter Stapeln von Arbeitsblättern, die das Licht dieser Welt kaum länger als 24h zu sehen bekommen hatten, nur noch ein einziges Mal in der hektischen Suche vor einer Klausur hervor gezogen wurden, und schließlich doch von Wikipedia überflügelt wurden. Doch dieser einfache Zettel, er kann der Ausweg sein!
Stufe II. – Erste Verluste
Bitte was?? Man kann Erdk-…ach, was soll’s, Erdkunde nicht abwählen?! Und die erste Delle ward geschaffen. Und nicht nur diesen einen Stapel Papiere soll man weitere zwei Jahre für den Fall der Fälle, eine Oberstufe während der atomaren Katastrophe und der resultierenden Zerstörung des Internets, in zahlreichen Ordnern lagern – auch Geschichte und Gemeinschaftskunde scheinen ohne Zwang so wenig besucht zu werden wie Vortragsabende, hust, für die Allgemeinbildung unabdingbar zu sein.
Stufe III. – Verhandlung
Einen Kaffee später sieht die Wahl schon ganz anders aus, Wirtschaft scheint sich als Retter zu ergeben, kürzt es einem GK und Erdkunde auf je nur ein Halbjahr. Und notfalls ist ja noch ein Joker im Spiel, das Zauberwort, „klammern“. Wer Newton eher verwünscht als bewundert, der kann sich zur Not auch mit Bio und zweistündig Chemie anfreunden. Weniger einfach ergibt sich die Wahl für diejenigen, die eben jenen Vierstünder zugunsten einer weiteren Sprache gerne gegen Biologie verteidigen würden. Doch das Spiel ist ja nicht zu Ende, weshalb sollte es keinen Zweistünder für Englisch oder Französisch geben? Sei doch am LGH viel möglich…
Stufe IV. – Wahlkampf
Tom gegen Jerry, Antigone gegen Kreon, Gemeinschaftskunde gegen Wirtschaft – Gegenspieler, die Geschichte schrieben. Ihr fandet Trump gegen Hillary hart? Das hier ist ein Kampf auf Leben und Tod, denn nur ein Kurs kann zustande kommen! Die Argumente reichen von „Das wirst du später mal wirklich brauchen!“ über „So einfach kriegst du nirgendwo mal eben 12, 13 Punkte.“ bis zu „Ach komm, den Kurs gab es noch nie!“. Nicht nur Vierstünder wie Ethik und GK kämpfen hier um Stimmen, gerade unpopuläre Zweistünder sehen ihre Chance, dass zumindest etwas ihres Wissen bis zum Abi nicht vollständig durch Songtexte ersetzt zu werden. Selig grinsend können das die Orchideen-Fächer betrachten, die unangefochtenen Spitzenreiter der lang ersehnten Fächer – wer hat nicht darauf gewartet, endlich zu verstehen, was Menschen so weit treiben kann, am Montag-Morgen mit einem Lächeln an der Kaffee-Maschine vorbei zu laufen…?
Stufe V. – 5h Schlaf sind doch ausreichend!
42 Wochenstunde, so viel ist das gar nicht… Und wann, wenn nicht jetzt kann man schon Philosophie, Psychologie UND Literatur und Theater nehmen? Sobald man nicht mehr verpflichtet ist, sich durch Französisch zu quälen, wandelt sich Frankreich schnell zum Urlaubsland der Träume, Französisch zur Weltsprache, und von den Subjonctif-Auslösern kann man eigentlich den Großteil. Der sechste Vierstünder wird zum festen Teil der Planung, und die Einbindung der Addita, die man eigentlich nicht aufgeben will, wird waghalsig, waghalsig genug, dass die Google-Suche „Zeitumkehrer echt“ Einzug in den Verlauf erhält.
Stufe VI. – Verlustängste
Aber auch Hermine wurde schließlich von der Realität eingeholt, und die Ermöglichung einer Oberstufe bei nahezu Lichtgeschwindigkeit würde den Physik-Vier-Kurs erübrigen. Doch auf was kann verzichtet werden? Kann man sich auch auf Englisch in Paris über Wasser halten? Wenn man in ein paar Jahren vor Jauch sitzt, fehlen einem dann zwei Jahre Chemie? Doch den zum „Over-thinking“ neigenden Zehntklässler zermürben noch ganz andere Zweifel. So lange wartete man auf die Chance, endlich selbst zu entscheiden, was man lernt – und wie so oft, erkennt erst dann das paradiesische Gefühl, sich nicht festlegen zu müssen, hinter dieser plötzlich erkannten Vielfalt. Vor einigen Jahren dachte man auch noch, ein Youtube-Kanal wäre eine echt gute Idee. Und jetzt soll man entscheiden, worin man später mal sein Abitur ablegen wird? Eine falsche Entscheidung, die das zukünftige Selbst noch lange zu tragen haben wird, welcher Wahnsinnige sollte die treffen wollen? Denn so sehr man sich Verantwortung gewünscht, so oft Lehrer und Hausaufgaben unbeliebter Fächer verflucht hat – so sicher lebte man doch in dem Wissen, nichts zu verpassen. Und, verdeckt durch Liebe zum Aufschieben und dem kollektiven guten Gefühl eines gemeinsamen Feindes Hausaufgaben, schlummert doch in einem jeden ein gewisses Interesse für nahezu alles, welches mit ein wenig Motivation und Koffein durchaus zu Tage zu fördern ist. Diesen Spielplatz uneingeschränkter Möglichkeiten und Themen soll man nun einfach verlassen?
Stufe VII. – Verzweiflung
Kommt man selbst nicht weiter, hilft nur der Tisch als Stütze, als hoffentlich sehr belastbare Stütze. Ein jeder möglicher Plan ist so oft durchdacht worden, so oft widerlegt worden, dass die Gedanken in einem schier endlosen Kreislauf die immer gleichen drei Varianten, „Gerade so was nötig ist“, „50% Spaßfächer“ und „sleep is for the weak“ mit beängstigender Geschwindigkeit durchlaufen, ohne zu einem neuen Schluss zu kommen.
*Domm!* – Delle Nummer drei.
Stufe VIII. – Akzeptanz
Wenn die Augen müde und die Tasse leer geworden ist, der Schlaf entschieden hat, sich nicht weiter ins Abseits schieben zu lassen, und so das endlose Karussell unterbrochen hat – dann wacht man am nächsten Morgen auf, der Kopf weich gebettet in der gestern geformten Delle, und kann hoffentlich eines erkennen: man hat sich gerade mit voller Beschleunigung in etwas hineingesteigert. Denn ja, die Wahl ist wichtig für das Abitur – aber mit etwas Motivation und Kaffee wird man die Prüfung auch in einem Fach schaffen, das einen wenn auch wider Erwarten nicht absolut fasziniert hat. Das hat man die letzten Jahre auch irgendwie geschafft. Und ja, das Abitur ist wichtig für die Aufnahme an der Traum-Universität – aber in welchen Fächern, das ist am Schluss zweitrangig, und nach der Universität wird es die Wenigsten noch interessieren. Denn wenn man sich einmal, gestützt von mehr oder minder kreativen Motivationsplakaten, durch das Abitur gebracht hat, wird sich einem das weite Feld möglicher Studiengänge und Nebenfächer eröffnen, denn, so seltsam das aktuell für den ein oder anderen auf einer früheren Stufe klingt, es existiert eine Welt außerhalb der Schule.
Also: Wähl es einfach! Nimm deinen sechsten Vierstünder! Schmeiße das Fach einfach raus! Wähle Bio vier ohne Chemie zwei zu nehmen! Kreuz das Orchideen-Fach noch mit an! Nimm den Kurs nur zwei statt vier Halbjahre! Denn bei irgendwas davon hat dein armes, übermüdetes Gehirn gerufen „Damn it, yes!“ (oder nur „yes“, mein Gehirn hat sich jedenfalls noch nicht ganz von Stufe VII erholt).
Und wenn du am Ende denkst, dass du alles geschafft hast kommt:
Stufe IX. – Die Qual der Wahl schlägt zurück
Als ob man ernsthaft nur um Schwimmen ODER Fußball herum kommen kann…
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