von Simon Neumaier
Die Jugend ist langweilig geworden. Spießig, kleinbürgerlich, konventionell. Dieses Bild zeichnet die gebetsmühlenartige Schwarzmalerei der Gesellschaftskritiken, Feuilletonartikel und soziologischen Essays, die den Esprit der Generationen „Jetzt“, „XY“, „Sowohl als auch“, „Ja aber“ und wie sie alle heißen mögen, für tot erklärt. Und das alles, weil die Jugend die Rebellion verlernt hat. Den Protest gegen Strukturen, Establishment und das, was die vorherigen Generationen als Institutionalisierung ihres Lebenswerks sehen. Der Protest. Das war die Inkarnation des Drangs der Jugend auf Wandel, auf Neuerung; und in einer stark banalisierten Retrospektive tut man sich leicht, Jugendkultur seit ’64 auf diesen Aspekt zu reduzieren. Die Studenten der 60er und 70er Jahre sind noch heute Vorreiter und Ikonen eines gesellschaftspolitischen Bewusstseins. Eine zu Wirkzeiten von Etablierten verlachte, bis verhasste Bewegung zeigt erstmals in dieser Dynamik die Tendenz, in einem Kollektiv kritisch zu denken und daraus Handlungen abzuleiten, die die Elterngeneration, die unter der Doktrin preußischer Sekundärtugenden erzogen worden war, ratlos ihren Kindern gegenüberstehen ließ, deren Gebaren in ihrer Jugend als das eines Taugenichts abgestempelt worden wäre. Eine Selbsterkenntnis in Hinsicht der Wirkmächtigkeit der eigenen Meinung und des Beteiligungswillens entstand, ein Wunsch Teilzuhaben und die Definition dessen, was die Gesellschaft anerkennt und tut, nicht nur den Eltern zu überlassen. Aus dem Wunsch nach selbstbestimmter Veränderung, die nicht eintrat, wurde die Freiheit darüber aufzubegehren. Dies sei der Aktionismus, zu versuchen, etwas zu bewirken, auch wenn dies gegen Widerstände erfolge, der heute vielen fehle, mit dem die heutige Jugend verglichen, blass und unpolitisch sei. Aber ist das wirklich so? Lässt der Wandel jungen Protests nur eine Beobachtung über den Aussagenden, nicht aber über die Art der Aussage zu? Protest und Jugendbewegungen sind ein spezifisches Thema im Sammelbecken des Aufstands. Aber junge Protestkultur ist immer richtungsweisend und progressiv. Sie zu betrachten mag unvollständig sein, schränkt die Perspektive aber nicht zu sehr ein, weil junger Protest avantgardistisch sein kann, ohne automatisch exklusiv zu werden
Der Protest ist ein machtvolles Instrument politischer Aktion. In vielerlei Hinsicht ist er die Ultima Ratio der Opposition gegen einen Umstand, Entschluss oder Plan. Der Entschluss zum Protest ist der Äußerste, der feststellt, dass jede andere Initiative gescheitert oder perspektivlos ist. Wer sich nicht klar und unmissverständlich gegen etwas aussprechen muss, hat offensichtlich keinen Grund den Protest zu suchen; was sich im Gespräch in gegenseitigem Einvernehmen und als einheitliches Interesse festlegen lässt, bedarf keiner Demonstration. Diese Feststellung hat allerdings auch einen Umkehrschluss, der den Protest zu einem Mittel macht, das mit größerer Vorsicht einzusetzen ist, als dies in der Geschichte oft geschah. Es geht mit ihm die Verantwortung einher, ihn nur in letzter Konsequenz anzustreben. Für ein machtvolles, politisches Instrument gilt, unabhängig vom Akteur, dass der Einsatz entsprechend gerechtfertigt sein muss. Sonst bekommt der Protest ein Legitimationsproblem.
Wer den Protest wählt, stellt damit auch die eigene sonstige Ohnmacht fest, im geregelten Lauf der Dinge eine Veränderung herbeizuführen. Es ist Ohnmachtsbekunden und Machtbeweis zugleich, indem es die Auseinandersetzung auf eine neue Ebene hievt, die dadurch, dass Sie gegen Konventionen spricht, dem Gegenüber der Auseinandersetzung erschwert, darauf zu reagieren. Wer den Protestmarsch wählt, stellt damit fest, in Plenarsälen nichts mehr erreichen zu können, hievt die politische Auseinandersetzung auf die Ebene des Plenums der Straße, auf die der Berufspolitiker schlechter reagieren kann. Sind zuvor nicht alle Mittel ausgereizt, gibt es weniger Möglichkeit, begründet erklären zu können, warum diese Ausweitung nötig ist. Die Rede-, Presse- und Versammlungsfreiheit sind Rechte, die mündigen Bürgern zugesprochen werden müssen, sie sind allgemein anerkannte Grundprinzipien einer demokratisch-pluralistischen Grundordnung. Dass ein mündiges Mitglied einer solchen mit Rechten auch Verpflichtungen erwirbt, ist ersichtlich. Dazu gehört die Grundordnung, der gemeinsamen Bewältigung von Aufgaben und Problemen beizutragen, was nirgends explizit niedergeschrieben sein mag, aber einleuchtet, wenn man voraussetzt, dass der engagierte Demokrat auch ein Interesse an der Erhaltung der Demokratie hat. Wer Probleme lösen will, ist darauf angewiesen, dass die anderen das auch wollen und daher angehalten, in wechselseitigem Interesse auch auf deren Probleme konstruktiv einzugehen. Mit der Freiheit des Aufbegehrens geht also auch eine Pflicht einher: die Verantwortung der Freiheit ernst zu nehmen und die Hintergründe des Protests kritisch zu prüfen. Denn das, was dem Protest seine Legitimation raubt, ist, wenn er zum Selbstzweck verkommt und damit, entgegen seiner eigentlichen Entstehungsgrundlage, Lösungsmöglichkeiten umgeht.
Ein veränderter Umgang mit Protest muss nicht ausschließlich nahelegen, dass sich etwas im Wesen der Protestierenden verändert hat, sondern kann auch bedeuten, dass die Umstände anders waren, die Menschen einst dazu bewegten. Je mehr der Pluralismus dazu in der Lage ist, Meinungen zu integrieren und ernsthaft zu berücksichtigen, desto weniger werden die Berücksichtigten einen Grund sehen, ihre Meinung in einen Kreis zu tragen, der nötig wird, weil sie sonst niemand hören will. Wenn kein Ronald Reagan an der Spitze des Staates California sitzt, der bereit ist, im Ernstfall Studenten auf dem Berkeley Campus niederknüppeln zu lassen, muss es erst gar keine Studenten geben, die lauthals Veränderung fordern, weil die politische Kaste zu weit von ihrem Wirkradius entfernt ist, als dass sie sich verstanden fühlen würden.
Die Verheißung des Aufbegehrens ist fast immer eine Hoffnung auf eine bessere, gerechtere, freiere, solidarischere oder offenere Ordnung, die allzu oft enttäuscht wurde. Diese nicht leichtfertig herauszufordern, wenn man die Möglichkeit hat, zuvor andere Wege zu gehen, ist kein Zeichen von politischer Blässe und Unwille zur Beteiligung. Es ist ein Bekenntnis zu politischer Reife, die den Prozess der langfristig-soliden Alternativen den massenwirksam-plakativen vorzieht.
Bild: Wikimedia Commons, Squatters in Berlin, Kreuzberg (1981), Tom Ordelman
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