Wenn das vergangene Jahr unserer Welt eine Lektion eindeutig vermittelt hat, dann ist es zweifellos die Bedeutung von Diplomatie und interkulturellem Verständnis. Die jüngsten Diskussionen über die Ereignisse im russischen Angriffskrieg sowie Begegnungen mit ukrainischen Staatsangehörigen am LGH haben uns immer wieder vor Augen geführt, wie wichtig es ist, in solchen Krisensituationen an einem Strang zu ziehen, um kompromissbereit Lösungen zu finden. Diese Fähigkeit kann nicht früh genug erlernt werden und demnach machten wir, 30 Schüler der Oberstufe, uns mit großer Vorfreude und Entschlossenheit Ende Januar auf den Weg nach Boston, um das LGH und insbesondere das uns zugeteilte Land Haiti bei den bevorstehenden HMUN-Konferenzen zu vertreten.

Einmal jährlich laden Harvard Undergraduate Studenten etwa 4000 Schüler aus der ganzen Welt für ein Wochenende nach Boston ein, um an dem von ihnen organisierten Model United Nations (kurz MUN) Planspiel teilzunehmen. Simulationen der UNO sind mittlerweile weltweit etabliert und werden keinesfalls nur von der Harvard University angeboten. Nahezu alle Mitgliedstaaten der Vereinten Nationen verfügen über landeseigene MUN-Vereine und Anbieter, um Schülern und Studenten einen Einblick in die Arbeit der Vereinten Nationen zu ermöglichen. Das Prinzip klingt erstmal einfach: Teilnehmer werden zu Delegierten eines ihnen zugeteilten Landes und müssen dieses während der Konferenzen in einem der zahlreichen UN-Komitees vertreten.  

Nichts leichter als das, dachten auch wir LGH-Schüler und fingen an, uns auf die Konferenzen vorzubereiten. Voller Vorfreude ging es für uns am 25. Januar an den Stuttgarter Flughafen und wir machten uns auf den Weg nach Boston. Nach einem langen Flug kamen wir abends endlich in unserem Hotel an und hatten hier die Möglichkeit, einige Mitdelegierte aus anderen Schulen kennenzulernen. Unser Glaube, dass ein gutes Grundverständnis über die Ziele und Bestrebungen Haitis bei den Vereinten Nationen sowie ein allgemeiner Überblick über den Aufbau der Vereinten Nationen und die jeweiligen Diskussionsthemen unserer Komitees ausreichen würde, um bei dieser Konferenz die Interessen unseres Landes zu vertreten, erwies sich spätestens hier als falsch. Die anderen Delegierten schienen nämlich nicht nur Vorfreude, sondern im Gegensatz zu uns auch eigene Websites, neu erstellte Instagramaccounts oder auch professionell gestaltete Visitenkarten für ihre Delegation mitgebracht zu haben. 

Nach diesem ersten Schockmoment ging es für uns alle erst einmal ins Bett, bevor am 26. Januar der erste richtige Konferenztag anstand. Grundsätzlich muss man sagen, dass wir sehr großes Glück mit unserem Hotel hatten. Der Standort innerhalb Bostons direkt am Copley Place war hervorragend und die Konferenzen fanden alle entweder in unserem Marriott Hotel oder dem benachbarten Sheraton Hotel statt. Gerade weil wir alle Delegierten das Privileg hatten, in demselben Hotel untergebracht zu sein, hatten wir durchaus die Möglichkeit, die anderen internationalen Schüler innerhalb der Pausen ein bisschen näher kennenzulernen. 

Das offizielle Programm startete mit der Eröffnung der Konferenz und einer anschließenden ersten Sitzung in den einzelnen Komitees. Schnell wurde unsere Vorahnung nach den ersten Treffen mit Mitdelegierten vom Anreisetag bestätigt. Die nächsten vier Tage wurden ganz anders als erwartet und vor allem eins: Anstrengend! Denn eine Vielzahl der Teilnehmer und Teilnehmerinnen waren nicht nur von der Freude am internationalen Austausch, sondern vor allem von dem Interesse an dem Award „Best Delegate“ getrieben. Das ist also Harvard, verstanden wir schnell. Was bei anderen MUN-Konferenzen, wie beispielsweise MUNBW (der MUN Konferenz Baden-Württembergs), eine vollkommen ausreichende Vorbereitung gewesen wäre, war hier nicht gut genug, um aktiv an der Konferenz teilzunehmen. Die Konferenzen insgesamt waren nämlich hauptsächlich von aufeinanderfolgenden Reden geprägt, die eine Debatte im Plenum sehr erschwerten und der Ablauf der Sitzungen war oft schneller, als man selber denken konnte. Die vier Tage wurden also zu einer unerwartet großen Herausforderung, die jeder einzelne von uns unterschiedlich meisterte. Einige nutzten ihre Freizeit, um die Konferenzvorbereitung ein bisschen aufzubessern und Reden zu schreiben, andere beteiligten sich hauptsächlich in informellen Sitzungen, um dem teilweise angsteinflößendem Redehalten etwas aus dem Weg zu gehen. Alles in einem kann man allerdings sagen, dass jeder von uns es trotz dem holprigen Start geschafft hat, die Konferenztage zu einer letztendlich guten persönlichen Erfahrung umzuwandeln und aus seiner eigenen Komfortzone herauszukommen. So gut, dass unsere Delegation sogar zwei Awards gewinnen konnte, über die sich Johanna (Kl. 12) und Lara (Kl. 11) freuen durften. 

Am Ende der Konferenz stellt sich natürlich die Frage, was wir aus den Erlebnissen mitnehmen. Offensichtlich hat sich der Start unserer Boston-Klassenfahrt als ganz anders entpuppt, als einige von uns es anfangs erwartet hatten. Allen zukünftigen HMUN Teilnehmern würde ich jedenfalls raten, sich intensiver und umfangreicher, als wir das taten, mit den Konferenzthemen und dem eigenen Land auseinanderzusetzen. Trotz allem war die Konferenz eine insgesamt großartige und vor allem lehrreiche Erfahrung. Wir haben tausende Schüler aus allen Kontinenten der Welt kennengelernt und hatten die Möglichkeit, Teil einer so großen Konferenz in einem so besonderen Umfeld zu sein. Auch wenn für viele nicht alle Inhalte aus den Sitzungen verständlich waren, konnten wir doch viel über internationale Politik und aktuelle politische Probleme lernen und das nicht nur unbedingt im Rahmen der Konferenz, sondern auch in persönlichen Gesprächen mit unseren Mitdelegierten. 

Vor allem aber habe ich noch einmal mehr verstanden, warum politische Entscheidungsfindungen oft langwierig und ineffizient erscheinen. Schon nach meiner Teilnahme an MUNBW hat sich mein Verständnis für Politik stark verändert. Obwohl ich damals nur Teil eines 20-Personen-Komitees war, gestaltete sich das Entwerfen einer Resolution zu unserem Diskussionsthema schwerer als erwartet. In unserem HMUN-Komitee waren nun um die 100 Mitdelegierte und damit gehörten wir noch zu den kleineren Komitees. Zwischen 100 verschiedenen Nationen einen Konsens zu finden ist wahnsinnig schwer. So schwer, dass wir es nach vier Sitzungstagen, die unter anderem bis 23 Uhr gingen, nicht schafften, eine Resolution zu verabschieden. 

Übertragen auf die aktuellen Ereignisse wurde mir durch HMUN einmal mehr klar, dass es offensichtliche Völkerrechtsbrüche, wie beispielsweise den russischen Angriff auf die Ukraine, gibt. Diese kann man nicht rechtfertigen und hier ist auch nichts verhandel- oder diskutierbar. Dass man Russland heutzutage jegliche Unterstützung entziehen sollte, ist klar. Jedoch ist es nicht immer offensichtlich, wie sich jedes Land in seiner Unterstützung mit der Ukraine verhalten sollte. Bei den vielen zu berücksichtigenden Faktoren, wie zum Beispiel wirtschaftliche Beziehungen und politische Bündnisse, ist es verständlich, dass es in der Regierung zu vielen Unstimmigkeiten kommt, was die Entscheidungsfindung erschwert. Und gerade deshalb sind MUN-Konferenzen so wichtig. Sie fördern ein gewisses Verständnis für schwierige Entscheidungsprozesse in der Politik, insbesondere in Bezug auf internationale Angelegenheiten, die oft komplex und umstritten sind.

Hier findet ihr einen Artikel zu MUNBW, wo die allgemeine Idee von MUN Konferenzen nochmals deutlicher wird: http://www.derfarbfleck.de/model-united-nations-warum-es-sich-lohnt-mitzumachen-und-was-du-beachten-musst/

Nach der Konferenz blieben wir noch einige Tage in Boston und konnten so die Stadt ein bisschen näher kennenlernen. Auf unserer Schulhomepage https://www.lgh-gmuend.de folgt bald ein Bericht über die komplette Klassenfahrt und das wirklich sehr spannende und umfangreiche Programm der freien Tage in Boston.

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