Hören wir „Nordkorea“, schrillen die Alarmglocken: Atomwaffentests, Totalitarismus und seit Covid-19 erneute Nachrichten von Lebensmittelknappheit. In den letzten Jahren erhoben vermehrt Flüchtlinge aus Nordkorea ihre Stimmen, um ihre Erfahrungen über das unnahbare Regime zu teilen. Einer dieser Flüchtlinge ist Yeonmi Park. Ihre Rede auf dem One Young World Summit 2014 wurde über 82 Millionen Mal auf sozialen Netzwerken angeschaut. Doch welchen Informationen kann man in einer Zeit trauen, in der Journalismus von „Fake News” und staatlicher sowie parteilicher Propaganda gesättigt ist? Dieser Artikel präsentiert drei hautnahe Erfahrungsberichte von Dissidenten, deren verschiedene Blickwinkel auf das Regime Nordkoreas für ein authentisches Bild der gesellschaftlichen Zustände sorgen.

Monument zur Gründung der Partei der Arbeit Koreas (PdAK) in Pjöngjang

Yeonmi Park war ein Kleinkind, als ihr Vater verhaftet wurde. Die Hungersnot der 1990er Jahre zwang verarmte Familien wie ihre, eigens Handel zu betreiben, um sich zu ernähren. Aufgrund der kommunistischen Doktrin Nordkoreas war Handel jedoch verboten und wurde mit langen Aufenthalten in Arbeitslagern bestraft. In der Abwesenheit beider Eltern waren Yeonmi und ihre Schwester täglich mit Hunger konfrontiert.
Yeonmis lebhaftesten Kindheitserinnerungen spielten sich in Krankenhäusern ab. Die Leichen der Menschen, die hier verhungerten, wurden nicht beseitigt. Nachts sammelten sich Ratten um die Leichname. Einige Kinder lauerten diesen auf und jagten sie, um nicht selbst an Hunger zu sterben. Doch die Kinder, die sich dadurch nicht am Leben halten konnten, boten im Gegenzug Nahrung für überlebende Ratten.

In ihrem Buch spricht Yeonmi über Kinder, deren Haut sich rund um zentrale Organe ablöste und diese nach außen sichtbar machte. Oft riefen diese Kinder nach Essen, während sie bäuchlings im Schlamm lagen und auf ihren Tod warteten. Im Jahr 1996 war die Hungersnot so präsent, dass dieser Anblick bei den übrigen Einwohnern zur Gewohnheit geworden war.
Auf staatliche Nahrungsrationen konnten die beiden nicht zählen- dafür war ihre Songbun, also ihre soziale Kaste, zu niedrig. Yeonmi und ihre Schwester aßen Heuschrecken, Libellen und Grashüpfer, um sich über Monate am Leben zu halten. Auf dem Höhepunkt der Krise pflückten sie während der Schulzeit Gras von umliegenden Wiesen. Gab es gelegentlich “echte” Lebensmittel wie Reis, wurden diese mit Sägespänen gestreckt.

Berliner Street Art des Künstlers „OBEY“ zum nordkoreanischen Diktator Kim Jong-un

Als Kontrast zu dem Bild der ländlichen Bevölkerung, welches von Yeonmi Park präsentiert wird, lässt sich ein Blick in das Innere der Partei werfen. Der Nationaldichter Jang-Jin Sung traf als eines der angesehensten Parteimitglieder den Präsidenten höchstpersönlich. Als privilegierter Bürger Pjöngjangs wurden ihm während der Hungersnot von 1994 bis 1998 üppige Lebensmittelrationen geliefert, die vom Land eingesammelt und in die Hauptstadt geleitet wurden. Jang-Jin arbeitete als Spion im United Front Department, also der Abteilung für staatliche Propaganda, die Parallelen zum orwellschen „Wahrheitsministerium“ aufweist. Dort konsumierte er Medien aus Südkorea, um als „südkoreanischer Bürger“ Lobgedichte auf Kim Jong-il zu verfassen. Allerdings las Jang-Jin unzensierte Berichte über Kim Jong-il, erfuhr über dessen privates Unterhaltungsprogramm in Form minderjähriger Schülerinnen sowie über dessen schwindende Gesundheit.
Eine Reise in sein Heimatsdorf zeigte ihm die Umstände der ländlichen Bevölkerung. Weit entfernt von Pjöngjang litten Menschen an Hunger und starben massenweise am Straßenrand. Seine ehemaligen Freunde waren entweder tot oder arbeiteten in der „Corpse Division“. Diese bezahlte Arbeiter dafür, Leichen von Bürgersteigen und Straßen zu beseitigen.
Alle Bürger, die noch nicht gestorben waren, wurden im Rahmen der Patriotischen Reisbewegung dazu aufgefordert, ihre übrigen Reisvorräte an den Staat abzugeben.

Jang-Jin sah dabei zu, wie man einen Bauern, der beim Stehlen eines Sackes Reis festgenommen wurde, öffentlich exekutierte. Den Entschluss zum Handeln fasste er, als eine Mutter ihr Kind auf dem Marktplatz versteigern wollte.
Die Flucht aus Nordkorea begann Jang-Jin mit einem Freund, nachdem die beiden in Schwierigkeiten mit den Behörden gerieten. Durch Bestechung sowie Jang-Jins Reisefreiheit als hohes Parteimitglied konnten sie problemlos an die Grenze gelangen. „Normale“ Bürger müssen spezielle Genehmigungen erwerben, um weite Zugstrecken hinzulegen. Auf der Flucht wurde Jang-Jins Freund von nordkoreanischen Autoritäten gefasst und begann Suizid.

Seit 2014 zählt die Geschichte des politischen Führers Kim Jong-un zu den offiziellen Pflichtfächern der Universitäten Nordkoreas

Ländlich, städtisch, reich, arm- doch wie ist es für jene, die von außen auf Nordkorea schauen? Die in Amerika aufgewachsene Südkoreanerin Suki Kim unterrichtete im Jahr 2011 in einer Universität Pjöngjangs.
Zu Beginn ihrer Lehrzeit kannte keiner ihrer Schüler das Internet. Für sie existierte lediglich das „Intranet“, welches die staatlich kontrollierte, nordkoreanische Form des WorldWideWeb ist. Doch dank des Wahrheitsministeriums (United Front Department) galt das Intranet innerhalb des Landes als fortschrittlichste technologische Entwicklung der Welt. Auch neben staatlicher Propaganda schien die Verbreitung persönlicher Informationen einem geregelten Rahmen zu folgen.

Keiner ihrer Schüler erzählte die Wahrheit über sein Eigenleben: Mal wurden riesige Geburtstagsfeste mit den Eltern gefeiert, mal Wiedersehen mit alten Freunden. Doch Suki Kim wusste, dass kein Schüler die Universität verlassen durfte. Eltern, die 15 Minuten entfernt vom Campus wohnten, wurde der Besuch der zukünftigen „Elite Nordkoreas“ unter allen Umständen verweigert.
Mit der Zeit gewöhnten sich die Schüler an ihre neue Lehrerin. Suki Kim fasste genug Vertrauen, um von ihrer Welt zu erzählen. Sie erklärte Reisefreiheit, das Internet und Fußballspiele, die auch ausgestrahlt wurden, wenn die eigene Mannschaft verlor. Sich mit Demokratie zu befassen war das gewagteste, was Suki Kim unternahm, denn ihre Unterrichtsmaterialien wurden regelmäßig von Autoritäten geprüft. Überraschend war es deshalb, dass sie ihren Schülern zum Ende ihres Aufenthalts eine Harry Potter Verfilmung zeigen durfte.
Suki Kims Notizen, die sie während ihres Aufenthalts in Nordkorea anlegte, ermöglichten ihr, die Erfahrungen in ihrem Buch „Without You, There Is No Us“ festzuhalten. Trotz zahlreichen Durchsuchungen wurde die Autorin nicht erwischt.

Die drei vorgestellten Autobiographien schildern das Schicksal eines Volkes, welches seit über 70 Jahren von seinem eigenen Staat unterdrückt wird. Menschen, die ihren Unterhalt an der Beseitigung von Leichen verdienen, gliedern sich neben verhungerten Kindern in ein Bild Nordkoreas ein, das euphemistisch betrachtet noch als orwellsch bezeichnet werden kann. Dennoch bleiben die Schmerzensschreie im modernen Journalismus weitestgehend stumm, erstickt in einem Nebel aus Mitleidsmüdigkeit und Ignoranz. Je mehr Flüchtlinge aus abgeschotteten Diktaturen und Kriegsgebieten ihre Biographien veröffentlichen, desto größer wird der Druck, zuzuhören, zu teilen und bestehende Regimepropaganda zu hinterfragen. Auch im Duden kommt Information vor Mobilisierung und Revolution.

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