Die Lehrmittelausgabe. Ich öffne nach meinem kurzen Sprint an kommunistischen Entenwettrennen vorbei die Tür zum Schulhaus und starre die erste Treppe mit herausforderndem Blick an, während ich die Wichtigkeit von Schulbüchern gegen die Wichtigkeit funktionsfähiger Lungen abwäge. Wie so oft in einer bürokratischen Gesellschaft gewinnt das geschriebene Wort.
Nach den ersten drei Treppen verfluche ich die Entscheidung; im dritten Stock angekommen krieche ich nur noch keuchend und hinterlasse eine Spur an Schweiß. Ich stelle mir schaudernd vor, wie Harry Potter in einem Schloss mit tausenden Treppen zur Schule zu gehen. Noch dazu eines, wo diese sich bewegen – und Schüler von Trollen angegriffen werden. Da heißt es dann zurecht beim Abimotto „Wir verlassen die Kammer des Schreckens“.
À propos Kammer des Schreckens: auch ich finde eine große Schlange vor, bei deren Anblick ich fast zu Stein erstarre. Vor der Lehrmittelausgabe reihen sich Scharen an Mitschülern, die mit absurden Wünschen den Gehilfen plagen, der so viele Chinesisch- und Arabischbücher gar nicht heranschaffen kann. Seine Augen weiten sich panisch, als ein weiterer Schüler „Dong bu dong“ bestellt. Dass er so enden würde, hätte er sich bei den Hüttentagen nicht vorstellen können, als ihm die damals noch scherzhaft gemeinten LGH-Mantras eingeflößt wurden. Jetzt kennt er deren wahre Bedeutung und flüstert nur noch leise „Kompetenzen ohne Grenzen“ vor sich hin. Sein düsteres Schicksal hat er längst akzeptiert.
Der Anblick ist mir zu grausam und ich ergreife die Flucht. Am Fuße der Treppe jedoch liegt ein verlassenes Bündel von Duschvorhängen, über das ich stolpere. Stirnrunzelnd betrachte ich den unangenehm nassen Stoff, der meine Waden in einem klammen Griff hält und versuche mich aufzurappeln. Der Vorhang ist stärker. Schließlich kann ich ein Bein herauswinden und kämpfe weiter gegen die rot-weiß gepunktete Masse an.
„Kommunist und Allesfresser aus Überzeugung“, quakt es in der Ferne, da bin ich endlich frei. Meine Vorhangsflucht führt mich weitere Treppen hinunter zur Tür hinaus, an die ich mich nach Luft schnappend von außen anlehne. Ich humpele langsam in Richtung Mensa und stelle mir sehnsüchtig eine Badewanne Voltaren vor, in die ich mich mit schmerzenden Gliedmaßen fallen lassen könnte.
In der Mitte des Schulhofes halte ich inne und betrachte die winterliche Umgebung. Übrig gebliebene Balldekoration taucht die Mensa in ein weihnachtliches Licht und es wird fast schon feierlich in meinem vor Anstrengung immer noch schnell schlagenden Herz. Fast meine ich sogar, runde Tische in der Mitte erkennen zu können…
Schneeflocken tanzen durch die Luft und legen sich auf der dünnen Eisschicht ab, die die Umwelt nun vor den Inhalten des Biotops schützt. Ich bleibe am Rand stehen und summe leise „Jingle bells“ vor mich hin.
Ich bin so vertieft in aller Weihnachtlichkeit, dass ich sie nicht kommen höre. Das kleine, patschende Geräusch von Entenfüßen auf Beton ist nun hundertfach verstärkt, als ein gigantischer Schwarm der Viecher direkt auf mich zuprescht. Ich will mich ducken, doch es ist zu spät. Die Flut der Enten reißt mich mit ins Biotop und die Eisschicht kracht unter meinem Rücken. Ich strample vergebens. Über mir türmen sich die Vögel und pressen mich unter Wasser. Meine Lungen suchen nach Sauerstoff und finden nur Biotopswasserkeime. „Alle, die schon einmal von einer kommunistischen Entenmasse im Biotop ertränkt wurden“ wäre eine gute LGH-Spiel-Frage, anstatt nach den Todesfällen an der Rems zu fragen.
Der Gedanke kommt mir nicht mehr. Jingle bells, jingle bells, jingle all the way spielt leise in meinem Kopf, dann endet meine Reise. Hier, auf dem weihnachtlichen Campus, im Biotop, von Entenkörpern in ein strampelndes und schnatterndes Grab gelegt. Hier schließe ich die Augen.
Oh, what fun it is to ride in a one horse open sleigh.
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